»Bis später dann, ja?«, flüsterte sie.
»So ist es gut«, meinte Alexander. »Jetzt drehen Sie Ihren Kopf nach links. Sehr gut.« Wieder erhellte sich der Raum. In der Ecke schloss Olivia leise die Tür hinter sich.
»So, Milly«, meinte Alexander. »Was haben Sie mit Ihrem ersten Mann angestellt?«
Alles um Milly herum begann sich zu drehen; jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Ohne zu antworten blickte sie starr in die Kameralinse.
»Lockern Sie die Hände«, befahl Alexander. »Die sind viel zu verkrampft. Immer locker bleiben!« Er machte ein paar weitere Aufnahmen. »Kommen Sie, Milly. Was für eine Geschichte steckt dahinter?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwiderte Milly mit trockener Stimme. Alexander lachte.
»Na, da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen.« Er richtete einen der weißen Schirme aus. »Sie wissen genau, wovon ich spreche. Und ganz offensichtlich weiß sonst niemand davon außer mir. Das macht mich neugierig. Versuchen Sie, die Beine übereinanderzuschlagen«, fügte er hinzu und sah durch die Linse. »Linke Hand aufs Knie, damit wir den Ring sehen können. Und die andere unter das Kinn.«
Wieder flammte der weiße Blitz auf. Milly starrte verzweifelt nach vorn, zerbrach sich den Kopf nach einer Erwiderung, einer vernichtenden Bemerkung, einem witzigen Gegenschlag. Aber in ihrer Panik war sie dazu außerstande. Die Angst schien sie auf das Sofa zu drücken, sie war unfähig, irgendetwas anderes zu tun, als seinen Befehlen zu gehorchen.
»Eine erste Ehe verstößt nicht gegen das Gesetz, wissen Sie!«, bemerkte Alexander. »Wo liegt also das Problem? Hätte Ihr Bräutigam was dagegen? Oder Ihr Vater?« Er schoss noch ein paar Fotos und legte dann einen neuen Film ein. »Machen Sie deshalb ein Geheimnis draus?« Er beäugte sie nachdenklich. »Oder steckt etwa mehr dahinter?« Er blickte auf die Linse hinunter. »Können Sie sich ganz leicht nach vorn beugen?«
Beklommen tat Milly wie geheißen.
»Übrigens, ich habe immer noch ein altes Foto von Ihnen«, sagte Alexander. »In Ihrem Hochzeitskleid, auf den Treppen. Eine Superaufnahme. Beinahe hätte ich sie gerahmt.«
Ein erneuter Blitz. Milly war schlecht vor Angst. In Gedanken kehrte sie zu jenem Tag in Oxford zurück, zu der Touristenschar, die von ihr und Allan auf der Treppe Fotos schoss, während sie sich in Pose gestellt und für sie gelächelt hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Wie hatte sie …
»Natürlich sehen Sie jetzt völlig anders aus«, sagte Alexander. »Ich hätte Sie beinahe nicht mehr erkannt.«
Milly zwang sich, aufzuschauen und seinem Blick standzuhalten.
»Sie haben mich nicht erkannt.« Ein flehender Ton schlich sich in ihre Stimme. »Sie haben mich nicht erkannt!«
»Also, ich weiß ja nicht!« Alexander schüttelte den Kopf. »Geheimnisse vor dem zukünftigen Ehemann zu haben! Kein gutes Zeichen, Milly.« Er schälte sich aus seinem Pullover und warf ihn in eine Ecke. »Verdient der arme Kerl es denn nicht, Bescheid zu wissen? Sollte man es ihm nicht sagen?«
Milly bewegte die Lippen, um zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst ausgestanden.
»So ist es toll«, sagte Alexander, der wieder in die Kamera blickte. »Aber versuchen Sie, nicht die Stirn zu runzeln.« Er sah auf und grinste. »Denken Sie an etwas Schönes!«
Nach einer scheinbaren Ewigkeit war er schließlich fertig.
»Okay«, sagte er. »Sie können jetzt gehen.« Milly erhob sich vom Sofa und sah ihn wortlos an. Wenn sie ihn anflehte – ihm alles erzählte –, dann hatte er vielleicht ein Einsehen. Oder auch nicht. Ein Schauer überlief sie. Das Risiko war zu groß.
»Wollten Sie noch etwas?« Alexander sah von seiner Kameratasche auf.
»Nein«, erwiderte Milly. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und wieder packte sie die Angst. »Danke«, setzte sie hinzu. So schnell sie konnte, ging sie zur Tür, ohne dass es überstürzt wirkte, zwang sich dazu, die Türklinke langsam hinunterzudrücken, und schlüpfte zur Diele hinaus. Als sich die Tür hinter ihr schloss, war sie vor Erleichterung den Tränen nahe. Aber was jetzt? Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und griff nach dem Telefon. Die Nummer kannte sie inzwischen schon auswendig.
»Hallo?«, ertönte eine Stimme. »Wenn Sie Isobel Havill eine Nachricht hinterlassen wollen, sprechen Sie bitte nach dem Signalton.«
Milly knallte den Hörer frustriert auf die Gabel und starrte ihn an. Sie musste mit jemandem reden. Sie hielt das nicht länger aus. Dann hatte sie plötzlich eine Eingebung, und sie nahm erneut den Hörer ab.
»Hallo?«, sagte sie, als jemand antwortete. »Esme? Hier Milly. Kann ich bei dir vorbeikommen?«
Millys Patentante wohnte in einem großen, eleganten Haus im Norden der Stadt, etwas zurückgesetzt von der Straße und von einem ummauerten Garten umgeben. Als Milly den Gartenweg entlangging, öffnete Esme die Tür, und ihre beiden schlanken Whippets tollten in den Schnee hinaus und sprangen an Milly hoch.
»Runter mit euch, ihr Bestien!«, rief Esme. »Lasst die arme Milly in Ruhe. Sie ist nicht gut drauf.« Milly sah auf.
»Ist das so offensichtlich?«
»Natürlich nicht!«, sagte Esme. Sie zog an ihrer Zigarette und lehnte sich gegen den Türrahmen. Ihre dunklen Augen sahen Milly abschätzend an. »Aber normalerweise rufst du mich nicht mitten am Tag an und bittest um ein sofortiges Treffen. Da muss ja wohl was nicht stimmen.«
Milly schaute in Esmes prüfende Augen und hatte plötzlich Hemmungen.
»Nicht direkt.« Geistesabwesend streichelte sie den Hunden über die Köpfe. »Ich hatte nur mit jemandem reden wollen, und Isobel ist nicht da …«
»Reden, worüber?«
»So genau weiß ich das gar nicht.« Milly schluckte. »Über alles Mögliche.« Esme zog wieder an ihrer Zigarette.
»So, so, über alles Mögliche. Meine Neugierde ist geweckt. Du kommst jetzt besser mal rein.«
Im Wohnzimmer knisterte ein Feuer, und ein Krug mit Glühwein verströmte einen köstlichen Duft. Während Milly Esme ihren Mantel gab und dankbar auf das Sofa sank, fragte sie sich wieder einmal erstaunt, wie solch eine welterfahrene, kultivierte Frau mit ihrem langweiligen Vater verwandt sein konnte.
Esme Ormerod war eine Halbkusine von James Havill. Sie entstammte einem betuchteren Familienzweig, war in London aufgewachsen und hatte zu James wenig Verbindung gehabt. Aber dann, ungefähr zu der Zeit, als Milly geboren wurde, war sie nach Bath gezogen und hatte sich höflich um Kontakt zu ihm bemüht. Olivia, beeindruckt von dieser neuen, reichlich exotischen Verwandten ihres Mannes, hatte sie unverzüglich gefragt, ob sie nicht Millys Patentante werden wolle, mit dem Hintergedanken, sie könnten sich auf diese Weise näher kommen. Doch die beiden waren nie Freundinnen geworden. Soweit Milly wusste, war Esme mit niemandem direkt befreundet. Jeder in Bath kannte die schöne Esme Ormerod. Viele hatten an Partys in ihrem Haus teilgenommen, hatten ihre ungewöhnlichen Gewänder und die ständig wechselnde Sammlung von objets in ihren Räumen bewundert, aber kaum einer konnte sich damit brüsten, Esme gut zu kennen. Selbst Milly, die ihr von allen Havills am nächsten stand, hatte oft keine Ahnung, was sie gerade dachte oder was sie als Nächstes sagen würde.
Ebenso wenig war ihr klar, womit Esme eigentlich ihr Geld verdiente. Esmes Familienzweig war zwar vermögend, aber so weit, so die gängige Meinung, war es damit auch wieder nicht her, dass Esme davon all die Jahre ihren bequemen Lebensstil hätte bestreiten können. Die wenigen Gemälde, die sie gelegentlich verkaufte, reichten, wie Millys Vater es ausdrückte, nicht einmal, um damit ihre Samtschals zu bezahlen; ansonsten aber bezog sie offensichtlich kein Einkommen. Infolgedessen gab die Frage nach Esmes Geld Anlass zu so mancher Spekulation. Eines der letzten Gerüchte, die in Bath kursierten, war, dass sie einmal im Monat nach London reiste, um es dort gegen ein ansehnliches Taschengeld mit einem alternden Millionär ganz unbeschreiblich zu treiben. »Also, wirklich, was für ein Unsinn«, hatte Olivia gesagt, als sie davon gehört hatte – um dann im nächsten Atemzug einzuräumen: »Aber möglich wär’s wohl schon …«
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