Er wurde aufmerksam, als sie mehrfach Sammaras Namen nannten. Kurz darauf vernahm er ihre Stimme draußen mit Amm Abduh scherzend. Beim Schwanken des Boots durchfuhr ihn fast ein Schauer. Sammara erschien in einem weißen Kostüm, begrüßte sie mit einer Handbewegung und setzte sich auf das leere Kissen, auf Sanas Kissen. Sie zündete gelassen eine Zigarette an, aber keiner merkte ihr etwas an, woraus man Ragabs gestriges, geheimnisvolles Verschwinden hätte erklären können. »Wo ist Sana?« fragte sie unbefangen. »In Amm Abduhs Hütte«, antwortete Mustafa Raschid. Als sie darauf nicht reagierte, fügte er hinzu, sie suche dort nach dem Absoluten. Sie erwiderte, Sana hätte das Absolute besser bei ihm suchen sollen. Er spottete weiter: »Um die Wahrheit zu sagen, sie hat Ragabs Liebe als etwas Vergängliches erkannt und sucht seitdem nach einem Unvergänglichen.«
»In Amm Abduhs Hütte«, bedauerte sie, »ist tatsächlich etwas Unveränderliches, nämlich die Leere.«
Ja, der Mann besitzt nur seine Gallabiya und schläft ohne Decke auf einem alten Sofa. So hatte er ihn gefunden, als er in das Hausboot eingezogen war; vor dem kommenden Winter mußte er ihm eine Decke besorgen. Mustafa redete auf Sammara ein, die Wasserpfeife zu probieren, und Ragab schloß sich ihm an:
»Warum lehnen Sie sie so beharrlich ab?«
»Warum zieht sie Sie in ihren Bann?« fragte sie lachend. »Das ist die entscheidende Frage!«
»Nur die Abstinenz bedarf der Erklärung.« Allen wurde klar, daß sie danach trachtete, den geheimnisvollen Bann zu ergründen. Ja, warum verlangten die Leute begierig nach dem entrückenden Rausch der Wasserpfeife? Warum hingen sie an dem Dämmerzustand?
»Schlagen Sie das Wort >Sucht< in der Encyclopaedia Britannica nach!« sagte Khalid Azzuz.
»Vorsicht, keine Gemeinplätze, meine Dame«, sagte Mustafa Raschid eifrig, und als sie zögernd lächelte, fügte er hinzu: »Hüten Sie sich davor, so lächerliche Worte wie Flucht und dergleichen in den Mund zu nehmen!«
»Ich möchte verstehen«, sagte sie. »Eine neue Untersuchung?«
»Ich verwahre mich gegen solche Verdächtigungen.«
»Gemeinplätze sind wertlos«, sagte Mustafa Raschid herausfordernd. »Wir sind alle arbeitende Menschen, ein Buchhalter, ein Kunstkritiker, ein Schauspieler, ein Schriftsteller, ein Rechtsanwalt, ein Beamter. Wir geben der Gesellschaft, was sie von uns fordert und mehr. Wovor sollten wir fliehen?« Ernsthaft wandte sie ein:
»Sie unterstellen mir Meinungen und versuchen, sie zu widerlegen. Ich frage nur, was Ihnen diese Pfeife bedeutet.«
Darauf erwiderte Ali as-Sayyid:
»Sie gibt uns, was mit den Worten des Dichters etwa so lautet: Augen bleiben wach, und andere schlummern um der Dinge willen, die sein werden oder nicht. Verscheuche den Kummer, wie du kannst, denn es ist Wahnsinn, Sorgen zu tragen!«
»Es sind also die Sorgen…«, sagte sie beinahe triumphierend. Mustafa Raschid blieb jedoch beharrlich: »Wir stellen uns den Alltagssorgen mit aller Energie, wir sind keine Faulenzer, sondern Familienväter und Unternehmer.« Die Welt mutet sonderbar an und wird noch sonderbarer, sobald der geistige Streit beginnt. Die Sorgen, die Faulenzer und die Gemeinplätze. Die Berauschten diskutierten mit geröteten Augen. Der Mond war nicht mehr zu sehen, aber seine Perlen glitzerten auf der Wasserfläche wie eine unbekannte Glückseligkeit. Was will die Frau, und was wollen die Berauschten? Sie halten es für Zeitvertreib, jene aber für Sucht. Erstaunlich, daß das Hausboot unter diesem Disput nicht bebt wie unter den Schritten auf dem Steg.
Amm Abduh trat ein, nahm die Wasserpfeife, um das Wasser zu erneuern, brachte sie wieder und entfernte sich. Anis blickte auf die Lichtperlen im Wasser und lächelte. Er vernahm die Stimme Sammaras, die ihn anredete, und schaute sie an, hielt jedoch mit der Arbeit nicht inne. »Ich möchte Ihre Meinung hören.«
»Heiraten Sie, Fräulein!« antwortete er einfach. Sie lachten. Sie ziehe die Rolle eines Predigers vor, meinte Ragab. Aber sie wollte sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Sie forderte Anis mit Blicken auf, eine Antwort zu geben. Aber er wandte sich von ihr ab und seinem Tun zu. Warum waren eins und eins zwei?
Eine schreckliche Frau, die die Selbstverständlichkeiten des Lebens in Frage stellt. Was will sie? Wie können wir bei dieser unablässigen Störung berauscht werden? Schließlich gab sie die Hoffnung auf eine Antwort von ihm auf und wandte sich an Mustafa:
»Zugegeben, Sie begegnen den Sorgen des Alltags mit rechter Energie, wie steht es aber mit dem öffentlichen Leben?«
»Meinen Sie die Innenpolitik?«
»Und die Außenpolitik!«
»Und die Weltpolitik, warum nicht?« spottete Khalid. »Auch die«, lächelte sie.
»Die Politik der Gestirne nicht zu vergessen…«, warf Mustafa ein.
»Sie sehen, daß die Sorgen größer sind, als Sie denken.«
»Jetzt fangen wir an zu verstehen. Sie bedauern, daß wir die Zeit mit abendlichen Zusammenkünften verschwenden, und glauben, daß wir uns vor unseren wirklichen Aufgaben drücken und daß wir ohne diese Ablenkung die Probleme der arabischen Nation, der Welt und des Universums lösen könnten.« Sie lachten wieder, warfen Anis vor, daß er der eigentliche Grund für die Leiden der Welt und für die Unerklärlichkeit des Universums sei. Mustafa schlug vor, die Wasserpfeife in den Nil zu werfen und dann die Arbeit unter sich zu verteilen, Khalid Azzuz solle sich der Innenpolitik widmen, Ali as-Sayyid der Weltpolitik und Mustafa der Entzifferung der Chiffren des Alls. Sie fragten sich, wie sie anfangen, wie sie sich organisieren sollten und wie sie den Sozialismus auf demokratischer Basis ohne Betrügerei und Zwang verwirklichen könnten. Wie waren Weltprobleme wie Krieg und Rassendiskriminierung zu lösen? Sollte Mustafa unverzüglich damit beginnen, die Rätsel des Universums zu entziffern? Sollte er zu diesem Zweck Naturwissenschaften und Philosophie studieren oder sich damit begnügen, sich in sich selbst zu versenken und auf den Strahl der Erleuchtung zu warten?
Sie bedachten, welche zähen Hindernisse ihnen entgegenstünden und daß Gefahren wie Entlassung, Verhaftung und Tod drohten. Eine Stimme beklagte sich über das Verrinnen der Zeit.
Der Mond war verschwunden, und von dem glitzernden Teppich war nur ein dünner Streifen übriggeblieben. Die Pfeife kreiste weiter, und Sammara hörte nicht auf zu lachen. In seinem Kopf schwirrten allerlei Einfälle durcheinander, die islamischen Eroberungszüge und die Kreuzzüge, die Inquisition, das tödliche Schicksal der Liebenden und der Philosophen, die blutigen Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten, die Märtyrerzeit und die Auswanderung nach Amerika, der Tod Adilas und Haniyas, seiner Frau und seiner Tochter, und das Feilschen mit den Mädchen der Nilallee, der Wal, der Jonas rettete, Amm Abduhs Arbeit zwischen Imamat und Zuhälterei, die nicht zu beschreibende Stille der späten Nachtstunden, die phosphoreszierenden Einfälle, die für einen Augenblick aufleuchteten und für immer vergingen. Die Stimme Sammaras weckte ihn; sie fragte: »Wie waren Sie in Ihrer frühen Jugend?«
Ein Gelächter erscholl. Warum lachen sie? Hatte ihr Leben keine frühe Jugend gehabt? Ferne Erinnerungen, die' nun der Steinzeit angehören. Das Dorf, der einzige Wohnraum und das Unveränderliche. Das Verharren im Dorf und in dem einzigen Raum. Der Mond ging damals auf und unter und erinnerte nicht an ein Ende. Khalid sagte:
»In meinen jungen Jahren blieb keine Frage ohne Antwort, die Erde drehte sich nicht, die Hoffnung bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von hundert Millionen Lichtjahren in die Zukunft.«
»Ich fragte mich eines Tages, warum die Angst vor dem Tod einem ewigen Glück im Wege steht«, erklärte Ali as-Sayyid. Und Mustafa Raschid sagte:
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