Wolfgang Wolter war deutscher Offizier. Seine Welt war klar vorgezeichnet, durch die Schule, Ausbildung und Beruf. Er trug eine Uniform, und er hatte einen Eid geleistet, Deutschland notfalls mit seinem Leben zu verteidigen. Der Blick aber ging nicht in die Runde, wenn von Verteidigung geredet wurde, sondern nur nach Osten. Von dort kam die Bedrohung der freien Welt, Wolfgang Wolter kannte es nicht anders. Seit er denken konnte, hatte man es so in sein Hirn getrieben.
Und da war Dimitri Sergejewitsch Sotowskij, der große und schwarzlockige Mann aus Tbilisi, ebenfalls von Kindesbeinen an in einer Ideologie erzogen; von den Komsomolzen an bis zur Universität, vom ersten roten Halstuch bis zur Anstellung als Ölingenieur in Grusinien. Er hatte kommunistisch denken gelernt, und er hatte sich wohl gefühlt. Nun war er im Westen, aus Liebe geflüchtet aus der russischen Heimat, und nur wer ein Russe ist, kann ermessen, was das bedeutet. Er blieb Kommunist, warum sollte er sein ganzes Leben ändern? Er träumte nicht von der Weltrevolution — das waren Auswüchse des Denkens —, aber er träumte von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, und das ist ein guter Traum, Freunde, wenn nicht immer wieder Menschen kämen, die sich radikal benehmen und aus Ideen Ideologien machen.
Und doch: So sehr sie zueinander paßten, Wolfgang Wolter und Dimitri Sotowskij — eine Welt trennte sie. Es gab keine Brücke zwischen ihnen. Warum, das weiß keiner zu erklären. Könnte man es erklären, würden alle Politiker arbeitslos, und die Welt hätte Frieden. Kaum auszudenken.
An diesem Sonntag nun geschah es.
Bettina und Agnes Wolter waren in der Kirche, Dimitri spülte das Kaffeegeschirr in der Küche (wie er es oft in Tiflis auch getan hatte), und Wolfgang Wolter, in Uniform, ging unruhig im Wohnzimmer hin und her, während sich Karl Wolter eine Zigarre ansteckte. Wie vor einem Gewitter war es drückend im Raum.
«Was soll aus Dimitri werden, Vater?«sagte Wolfgang und blieb vor Karl Wolter stehen. Seine Worte waren wie der erste Blitz aus den Gewitterwolken.
«Ich verstehe deine Frage nicht«, sagte Wolter.
«Er bleibt bei uns?«
«Natürlich! Er wird eines Tages Bettina heiraten.«
«Ich glaube kaum, daß das möglich ist, Vater.«
Das war so klar gesagt, daß Wolter seine Zigarre weglegte. Er sah zu seinem Sohn hinauf, auf die beiden silbernen Sterne seiner Schulterstücke, und dann erhob er sich und holte tief Atem.
«Weder deine Schwester noch dein Vater werden dich um Erlaubnis bitten, wie sie ihr Leben einrichten!«sagte er laut.»Ich wünsche, daß du endlich begreifst, daß Dimitri zu unserer Familie gehört! Ich habe ihn großgezogen wie einen Sohn.«
«Unter welchen Voraussetzungen! Du warst Gefangener, du hast einer Falschmeldung geglaubt und bist in Rußland geblieben. Du hättest als Russe weitergelebt.«
«Und ich wäre auch als Russe gestorben!«rief Wolter dazwischen.
«Doch das ist jetzt alles vorbei. Du lebst wieder in normalen Verhältnissen. Und ich bin Offizier der Bundeswehr.«
«Man kann's nicht übersehen«, sagte Wolter sarkastisch. Wolfgang bekam rote Ohren. Seine Finger schabten nervös über die Handflächen.
«Vater… ich bin im Ministerium darauf angesprochen worden. Stimmt es, daß Sie einen Russen in die Familie bekommen? Ihre Schwester will einen Russen heiraten? Denken Sie daran, daß Sie Offizier des MAD sind. Es ist fast unmöglich, daß Sie in der Abteilung Ost arbeiten bei einem Bolschewisten in der Familie. «Wolfgang holte tief Atem.»Begreifst du das, Vater? Meine Karriere ist in Gefahr. Man wird mich abstellen zu einem Truppenkommando, und dort kann ich versauern! Ich soll, das hat man mir gesagt, außer der Reihe zum Hauptmann befördert werden und eine Abteilung im Amt Ost bekommen. Das ist alles hinfällig, wenn Dimitri bleibt! Hast du gelesen, was Dimitri dem Reporter der Tagesschau gesagt hat? Ich bin ein Kommunist, auch wenn ich aus Rußland geflüchtet bin. - Im Ministerium hat man kopfgestanden. Ich mußte dem General Bericht erstatten. Geschämt habe ich mich!«
«Geschämt? Wovor? Daß Dimitri Charakter hat?«
«Vater! Du willst es nicht begreifen… wir sind eine deutsche Familie, ich bin ein deutscher Offizier… wir können uns keinen Sowjetrussen in unserer Familie leisten.«
« Ich kann es!«schrie Karl Wolter.
Vor seinen Augen brannte das Zimmer.
Wo habe ich die besten Jahre meines Lebens gelebt? In Rußland, dachte er. In Tiflis wurde ich nach den Jahren in Sibirien wieder zum Menschen. In Tiflis habe ich Dimitris Mutter kennengelernt, wir hatten eine gute Ehe, und ich habe aus dem schmächtigen Jungen einen richtigen, klugen Mann gemacht. Und nun geht es nicht mehr? Nun ist er im Wege, mein Söhnchen Dimitri. Und mein eigener Sohn sagt zu mir, ich soll ihn entfernen. Hölle und Teufel, das ist zuviel an sinnloser Politik!» Dimitri ist mein Sohn wie du!«sagte er laut.
«Er ist nicht dein leiblicher Sohn!«
«Er ist mir ans Herz gewachsen wie du und Bettina! Es gibt keine Diskussion darüber, was aus ihm wird! Eine Stellung wird er annehmen und Bettina heiraten.«
«Und meine Offizierslaufbahn?«rief Wolfgang.
«Das ist eine merkwürdige Armee, die sich vor einem einzelnen Russen fürchtet.«
«Es geht um das Prinzip, Vater!«
«Scheiß was auf dieses Prinzip! Es geht um die Menschlichkeit!«
«Du denkst und du redest wie ein Russe!«Wolfgangs Stimme wurde hell wie auf dem Kasernenhof.»Ich habe mir meinen Vater anders vorgestellt! Klüger, deutscher. So wie du dich jetzt benimmst, wäre es besser gewesen, du wärst in Rußland geblieben. besser für uns alle. «In diesem Augenblick zerbarst das Zimmer vor Karl Wolter. Er tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, hob die Hand und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wolfgang taumelte zurück. Blankes Entsetzen trat in seine Augen.
«Du schlägst mich.«, stammelte er.
«Du bist mein Sohn. Jawohl!«
«Ich trage eine Uniform.«
«Zieh sie aus, damit ich dir auf die andere Backe auch eine schlagen kann!«
«Ich bin Offizier, Vater!«
«Und ich war ein einfacher, dreckiger Feldwebel, der für euch den Kopf hingehalten hat. Für dich, du arroganter Bursche!«Karl Wolter keuchte und zog den Kopf zwischen die Schulter. Mein Herz, dachte er. O Himmel, ich spüre es im Herzen. ist stehe in einer fremden Welt, und doch ist es meine Heimat!
«Mach, daß du rauskommst!«sagte er hart.»Geh!«
«Vater.«, stotterte Wolfgang. Seine Wange brannte.
«Fahr zurück zu deinen Kameraden. Sing mit ihnen: Gen Ostland woll'n wir reiten. Wir haben es auch gesungen, und ich war so alt wie du. Was daraus geworden ist, siehst du. Hau ab, du deutscher Offizier!«
«Du bist wirklich ein Russe«, sagte Wolfgang dumpf. Er nahm seine Mütze und setzte sie auf.»Unsere arme Mutter!«
Karl Wolter bückte sich, irgend etwas ergriff er, schwenkte es durch die Luft und warf es dann gegen seinen Sohn. Ein Buch war es. Ein schöner Titel: >Die Welt, in der wir leben<.
Wolfgang wich dem Wurf aus. Dann wandte er sich um und verließ stumm das Zimmer.
In der Küche band Dimitri seine Schürze ab. Bleich war er, über seinen Augen lag ein Schleier. Er hatte das Geschirr ins Zimmer bringen wollen und an der Tür hatte er alles gehört und gesehen und auch verstanden.
Während Karl Wolter auf dem Sofa saß, den Kopf in beide Hände vergraben, schlich sich Dimitri aus dem Haus. Er nahm nicht viel mit, nur eine Aktentasche mit Wäsche. Nicht einmal einen Brief hinterließ er. Er ging weg aus einer Welt, der er lästig war. Er verschwand lautlos wie ein Nebel, der sich zwischen den Bäumen auflöst. Sein Herz blieb zurück bei Bettina, und das war das Fürchterlichste an seiner Flucht: Er ging ohne Seele weg. Nur sein Körper suchte Zuflucht. Die Welt war weit.
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