«Ein Mensch aus Tbilisi.«, stammelte Dimitri. Ob er es wollte oder nicht… Tränen kamen in seine Augen, und sie brannten, als seien sie aus Säure.»Ist das schön.«
Es zeigte sich, daß Valeri Mironowitsch Lepka schon seit zwanzig Jahren in Frankreich war, in Tiflis studiert und in der gleichen Abteilung gearbeitet hatte, die Dimitri einmal als Chefingenieur hatte übernehmen sollen. Einen ganzen Tag sprachen sie miteinander. Dimitri erzählte von dem neuen Grusinien, und Lepka bekam weite Augen, wie alle Russen sie bekommen, wenn jemand von ihrer Heimat erzählt. Augen, in denen die Weite Rußlands liegt.
«Es ist so gut wie sicher, daß du nach Algerien kommst«, sagte Lepka nach vielen Stunden russischer Erinnerung.»Aber glaube nicht, das ist ein Zuckerlecken, Freundchen. In Tiflis haben wir dagegen wie die Fürsten gelebt. Die Sahara ist das feindlichste Land, das die Erde kennt… aber, das ist ein Wunder: Wer sie einmal lieben gelernt hat, bleibt bei ihr, als ersticke er woanders. Überlege es dir,
Dimitri Sergejewitsch. Wir könnten für dich auch eine Stellung in Marseille finden. Oder an der algerischen Küste, bei den Tanks und Pumpen.«
«Ich will in die Wüste, Valeri Mironowitsch«, sagte Dimitri fest.»Ich will mich vergraben.«
«Es gibt mehr schöne Mädchen als diese Bettina!«rief Lepka.»Sei kein Idiot, Dimitri! Wir gehen heute abend aus, und ich bringe dir ein Mädchen, das in dir die Erinnerung an diese Deutsche vertreibt.«
Dimitri schüttelte den Kopf.»Es gibt nur eine Bettina, Valeri Mironowitsch. Laß sie mir im Herzen… es lebt sich leichter damit als mit einer Leere, in die nur ab und zu eine Stimme klingt.«
Und dann war Dimitri eines Tages in Marseille. Zehn Tage waren seit seiner Flucht aus Göttingen vergangen, auf dem Kalender war es ganz deutlich zu lesen. Unbegreiflich.
Zehn Tage. Wie ein Wind waren sie an ihm vorbeigeweht. Ihm war, als sei er erst vor ein paar Stunden aus dem Haus geschlichen und durch die sonntagsstillen Straßen Göttingens gerannt. Zehn Tage. Und nicht ein einziges Wort an Bettina.
In dem kleinen Zimmer des Hotels, in das man Dimitri bis zur Abfahrt des Schiffes nach Algier gebracht hatte — ein billiges Hotel, in dem es vom Keller bis zum Dachboden nach der Bouillabaisse, der Fischsuppe mit Knoblauch und Gewürzen, roch, auf die Marseille so stolz ist —, schrieb er seinen ersten und letzten Brief an Bettina. Er schrieb ihn russisch, denn was er zu sagen hatte, konnte er in deutscher Sprache nicht ausdrücken.
«Mein Stern,
ich lebe, aber das ist auch alles. Ich lebe mit einem zerrissenen Herzen, und ich lebe nur, weil die Erinnerung an Dich da ist, das Letzte, was ich von Dir habe, und das doch so schön ist, daß es für mein ganzes Leben reicht.
Leb wohl, mein Stern. Wie schön wäre es gewesen, wenn wir nur Menschen hätten sein können. So aber sind wir Russen und Deutsche und hundert andere Nationen, und es kommt nicht darauf an, daß jeder von
uns ein Herz hat, sondern es gilt nur, hinter welcher Fahne er marschiert. Das ist so dumm, aber es ist so alt wie die Menschheit. Wir ändern es nicht, mein Stern; wir sind nur Staub, den man wegwischt.
Ich küsse Dich. Nicht zum letztenmal, denn ich werde Dich in Gedanken immer küssen, ehe ich nachts die Augen schließe- immer, über Jahrzehnte hinweg, solange ich lebe. Du bist unsterblich in mir, meine Wanduscha.«
Dieser Brief traf zwei Tage später in Göttingen ein. An Bettina war er gerichtet, aber Karl Wolter riß den Umschlag auf, denn er kannte ja die Handschrift Dimitris, diese steilen, dicken Buchstaben, in das Papier gerammt wie ein steinerner Zaun.
«In Marseille ist er!«schrie Wolter und lief mit dem Brief durch die Wohnung. Agnes umarmte ihn, denn seine Freude war auch ihr Glück, und die vergangenen zwölf Tage waren schrecklich gewesen, dumpf und leer und wie leblos.»In Marseille! Betti! Er lebt! Er hat geschrieben. Mein kleiner Dimitri.«
Und dann las er den Brief vor. Erst auf russisch, und Bettina weinte und trat zum Fenster, als könne sie von dort aus bis nach Marseille blicken. Und dann las er ihn auch auf deutsch, und Agnes legte die Hände in den Schoß und sah ihren Mann lange an.
«Er kommt nie wieder«, sagte sie leise.»Ich habe Angst, Karl.«
«Angst? Wovor?«
«Soll es jetzt immer so bleiben? Wolfgang kommt nicht mehr zu uns, Dimitri ist gegangen — was soll das für ein Leben werden? Willst du nur trauern, bis du gestorben bist? Zwanzig Jahre haben wir auf dich gewartet, und was ist daraus geworden?«
«Dimitri wird zurückkommen!«sagte Karl Wolter.»Ich hole ihn.«
«Nein, Vater. Ich fahre nach Marseille!«Bettina drehte sich am Fenster um.»Ich rufe gleich die Fluglinie an. Mit der nächsten Maschine fliege ich. Dimitri kommt nur zurück, wenn ich ihn hole.«
«Das stimmt. «Karl Wolter las noch einmal den Brief Dimitris.»Er ist ein Dickkopf. Und stolz ist er. Stolz! Wäre er sonst ein Grusinier?«
«Und Wolfgang?«fragte Agnes Wolter leise.»Du hast noch einen Sohn, Karl.«
«Den hole ich!«Wolter legte den Brief vorsichtig auf den Tisch, als wäre er aus dünnem Glas.»Morgen früh fahre ich nach Bonn. «Und dann hieb er mit der Faust auf den Tisch, daß die Holzbeine ächzten, und er war wieder der alte Kolka aus Tiflis.»Zum Teufel!«schrie er.»Gelacht wäre es, wenn ich eine störrische Familie nicht wieder zusammenbekäme! Eine Kamelherde habe ich durch die Steppe getrieben, ich habe mit sturen Ochsengespannen Hunderte Werst abgefahren, und ich soll zwei dumme Jungen nicht zur Ordnung bringen? Verdammt will ich sein, wenn mir das nicht gelingt!«
Und Agnes Wolter lächelte zu ihm hinauf, als er sie wie um Beifall heischend ansah. Er ist ein völlig anderer Mensch geworden, dachte sie. Als er vor einundzwanzig Jahren abfuhr, war er fast ein schüchterner Jüngling. Nun ist er ein Bär aus dem Kaukasus.
Hand aufs Herz… so gefiel er Agnes Wolter auch besser.
Aber soviel ein Mensch auch plant: Es ist rätselhaft, wo die Karten des Schicksals gemischt werden.
Bettina landete um 17.19 Uhr auf dem Flugplatz Marseille. Aber genau um 17 Uhr legte das Schiff >Liberte< von der Kaimauer des Marseiller Hafens ab und glitt hinaus ins spiegelnde Meer. An der Reling stand Dimitri und sah zurück auf die Küste, niemand winkte ihm zu, aber da waren die Kräne, und sie sahen im Sonnenglast aus wie ein Wald von Fingern, die zum Abschied in den Himmel gereckt wurden.
Eine halbe Stunde später stand Bettina auf dem Dach des Hafenamtes und sah durch ein Fernglas hinüber zu dem langgestreckten Schatten, der vom Himmel und vom Meer aufgesaugt wurde; ein blasser, schemenhafter Gegenstand, wie eine über den Wellen treibende kleine graue Wolke.
«Das ist die >Liberte<���«, sagte der Direktor der französischen Ölgesellschaft.»Eine Stunde früher, Mademoiselle… ich hätte Ihnen zu gern beigestanden, auch wenn wir einen der seltenen Ölfachleute damit verloren hätten. Aber für eine so schöne Dame tun wir Fran-zosen ja alles.«
Bettina sah durch das Fernglas, bis auch die letzte Andeutung eines Schattens im Meer versunken war. Sie fühlte sich restlos erschöpft. Vom Flughafen zu dem auf dem Brief angegebenen Hotel, vom Hotel zur Ölgesellschaft, von dort zum Hafen… es war ein Wettlauf gewesen, den sie verlieren mußte. Nur neunzehn Minuten lagen dazwischen, und nach diesen Minuten eine ganze Welt!
«Die >Liberte< wird übermorgen in Algier ankommen«, sagte der hilfsbereite Direktor.»Wenn Sie morgen früh mit der planmäßigen Maschine nach Algier fliegen, sind Sie einen Tag früher da als Ihr Verlobter. Um die Einreiseerlaubnis werde ich mich selbst kümmern. Das wird eine Überraschung geben; er geht von Bord, und wer steht an der Mole? Sie!«
Bettina nickte und gab das Glas zurück zu dem stillen Hafenbeamten, der hinter ihnen stand.
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