Heinz Konsalik
STRAFBATAILLON 999
Julia Deutschmann machte sich an jenem Morgen hübsch, weil sie glaubte, daß man einer hübschen Frau eher ein Geheimnis verrät als einer verhärmten. Viel hatte sie nicht zu tun; sie war schön, auch wenn um ihre übernächtigten, müden Augen Schatten lagen und ihre Lippen blaß waren. Augenbrauen nachziehen, eine Spur Rouge auf die Lippen, etwas Puder, hundert Bürstenstriche über das lockige, schwarze Haar, das sie offen, ohne Spangen und ohne Kamm, trug. Das schlichte Kostüm war betont auf ihre Figur geschnitten, die hochhackigen Pumps waren auf die Farbe des Stoffes abgestimmt. Als sie hineinschlüpfte, erinnerte sie sich daran, daß es Ernst war, der sie ausgesucht hatte. Einen Augenblick verharrte sie reglos, die Erinnerung huschte wie ein Lichtschein über ihr Gesicht und verlosch.
Sie richtete sich auf und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.
Dann ging sie.
Der Posten vor dem Oberkommando der Wehrmacht, Berlin, Bendlerstraße, las das kurze Schreiben, das sie ihm hinreichte, lange und aufmerksam, als stünden dort nicht nur drei armselige Zeilen - eine unpersönliche Vorladung, beim General von Frankenstein vorzusprechen.
Im Hauptflur des großen Gebäudekomplexes traf sie einen Adjutanten, einen jungen Leutnant, der bei ihrem Anblick sehr zackig, mit knallenden Absätzen, grüßte und sich bereitwillig erbot, sie ins zweite Stockwerk zu führen. Vor der großen Eichentür am Ende des Flurs verhielten sie den Schritt: ein Tor, das in eine andere Welt zu führen schien.
In die Welt, die über Ernsts Schicksal entschied: fremd, unbekannt, voller Rätsel.
Neben der Tür ein rechteckiges Schild:
BODO v. FRANKENSTEIN
Der junge Leutnant verbeugte sich ein wenig steif. Julia glaubte fast, einen Corpsstudenten vor sich zu haben:
»Herr General wird Sie gleich hereinbitten. Ich melde Sie im Vorzimmer an. Darf ich Ihr Schreiben haben, gnädige Frau?«
Julia gab ihm den Brief. Der Leutnant mit dem eifrigen, milchigen Gesicht und mit schwärmerischen Augen verschwand im Nebenraum. Es dauerte nicht lange, bis er wieder auf den Flur trat - ein wenig steifer, förmlicher, zurückhaltender und, wie es Julia schien, auch nicht mehr so selbstsicher wie vorhin.
»Einen Augenblick noch. Sie werden gerufen.«
Er wandte sich ab und ging. Seine glänzend-polierten Stiefel knarrten. Kein Gruß mehr, kein »Gnädige Frau -«. So ist das also, dachte Julia ein wenig schmerzlich, der Name Deutschmann genügt, um ihn zu einem Eiszapfen erstarren zu lassen.
Sie setzte sich auf eine der klobigen, unbequemen Bänke im Flur und wartete. Erst nach einer halben Stunde öffnete sich die schwere Tür, und der Kopf einer jungen Sekretärin erschien.
»Frau Deutschmann?«
»Ja.« Julia stand auf.
»Herr General läßt bitten.«
General von Frankenstein kam ihr drei Schritte entgegen, als sie das weite Zimmer betrat. Dann blieb er abrupt stehen, wie eine aufgezogene Puppe, der das Räderwerk abgelaufen ist, und nickte ihr zu.
»Frau Dr. Deutschmann?«
»Ja, Herr General.«
»Sie haben wegen Ihres Mannes ein Gnadengesuch eingereicht?«
»Ja.«
»Warum?«
Einen flüchtigen Augenblick lang überfiel Julia der verrückte Vergleich, daß die Stimme des Generals genauso knarrte wie die Stiefel des Leutnants, der sie hierhergebracht hatte. »Er -«, sagte sie stockend, »- er wurde eines Irrtums wegen verhaftet, verurteilt zu einem Strafbataillon - ich weiß nicht, wo er jetzt ist ...«
»Es war kein Irrtum«, knurrte der General.
»Aber ...«
»Gestatten Sie bitte, daß ich Sie unterbreche«, sagte der General und verbeugte sich leicht: ein altgedienter preußischer Offizier, ein Kavalier alter Schule, dem man in seiner Kadettenzeit beigebracht hatte, daß er sich Damen gegenüber in jeder Situation höflich und korrekt benehmen soll: das war die Tradition. Und Julia war offenbar eine Dame - auch wenn Dr. Ernst Deutschmann ihr Mann war. So etwas sah man. Wenn man jung ist, hält man fast jede Frau für eine Dame, besonders wenn sie hübsch ist. Aber nicht mehr als hoher Sechziger, auch dann nicht, wenn man noch so voll Spannkraft war und immer noch so viel Mark in den Knochen hatte, potztausend, daß man es mit jedem dieser jungen Milchbärte von Leutnants aufnehmen konnte. Um des Generals verkniffenen Mund spielte die Andeutung eines Lächelns, denn: Ein General lächelt, er lacht nicht.
»Sie sind doch Ärztin, gnädige Frau«, fuhr er fort, »und Sie müssen davon etwas verstehen. Es war kein Irrtum. Ich stütze mich hier nicht auf meine eigenen Beobachtungen, sondern auf korrekte wissenschaftliche Analysen bekannter Sachverständiger. Ich selbst bin in diesen Fragen ein Laie. Wir sind nie leichtfertig, gnädige Frau, das entspricht nicht der Art der deutschen Wehrmacht. Wir haben den Fall Ihres Mannes gewissenhaft geprüft, und das Ergebnis heißt eindeutig - Selbstverstümmelung durch Injizierung von Sta-sta-nnn .«
»Staphylokokken -«, sagte Julia.
»Genau!« Jetzt klang seine Stimme schneidend und abgehackt. Er wandte sich ab und ging zu seinem mächtigen Schreibtisch zurück. Die dunkelroten Streifen an seiner Hose leuchteten auf, als er durch einen Sonnenstrahl schritt, der schräg durch die Gardine ins Zimmer fiel. Hinter dem Schreibtisch blieb er leicht vornübergebeugt stehen und stützte sich mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. Julias Blick tastete sich von seinen blaugeäderten, braunbesprenkelten Greisenhänden empor, über den hellgrauen, seidig glänzenden Rock - das EK I. Klasse des Ersten Weltkrieges - rote Spiegel mit goldenem, stilisiertem Eichenlaub - ein finnisches Halskreuz - ein faltiger Hals - ein knöchernes, unbewegliches Gesicht - bis zu den blaßblauen, rotgeäderten Augen unter der zerfurchten Stirn und weißen, einer stachligen Bürste ähnlichen Haaren.
Sie sah in seine Augen und sagte:
»Gerade weil ich Ärztin bin und ihm bei seiner Arbeit geholfen habe, weiß ich, daß Sie unrecht haben. Was er getan hat, würde so bald kein zweiter tun. Er wollte anderen helfen, deshalb hat er einen Selbstversuch gemacht. Das ist die Wahrheit. Aber dann - dann wurde er wie ein Verbrecher eingesperrt und verurteilt. Deshalb habe ich ein Gnadengesuch eingereicht.«
»Es hätte schlimmer sein können«, sagte der General ungeduldig. »Hören Sie zu, Frau Dr. Deutschmann: Ihr Mann war ein hinreichend bekannter Wissenschaftler. Deshalb haben wir ihn vom Wehrdienst zurückgestellt, solange es ging. Dann ging es nicht mehr, und er hätte einrücken müssen. Er tat es nicht, sondern infizierte sich mit dieser - eh - Krankheit. Das ist eindeutig Selbstverstümmelung. Und was seine Verurteilung zum Dienst in einem Strafbataillon angeht - es ist eine Einheit der deutschen Wehrmacht. Er muß sich bei dieser Spezialtruppe bewähren, dann wird er in eine andere Einheit kommen. Die Sache ist also für ihn sehr, ich muß schon sagen: sehr glimpflich abgelaufen.«
»Ich habe gehört«, begann Julia wieder, obwohl sie wußte, daß ihre Worte und alles, was sie sagen konnte, an diesem Mann abprallen würden wie ein Ball an der Wand, »ich habe gehört, daß dieses Bataillon 999 .«
»Was haben Sie gehört?« unterbrach sie der General.
»Daß die Leute dort sehr schlecht - wie Verbrecher -«
Der General hob gebieterisch die Hand. »Er ist Soldat«, sagte er kalt. »Sie sollen diesen Gerüchten nicht aufsitzen. Bei der Wehrmacht wird nicht gekegelt. Wir haben zu kämpfen. Nicht nur Ihr Mann wird es tun - Millionen andere tun es schon seit Jahren. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
»Ja -«, sagte Julia schwach.
»Sehen Sie. Ihr Gesuch ist gegenstandslos. Bataillon 999 ist eine Truppe. Ob in der oder einer anderen .«
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