Hassan ließ ihre Hand fallen und rannte aus dem Haus. Ich lief hinter ihm her, aber er war zu schnell für mich. Ich sah, wie er den Hügel hinaufhastete, wo ihr zwei im mer gespielt habt, und seine Füße wirbelten wahre Staubwolken auf. Ich ließ ihn ziehen. Ich saß den ganzen Tag bei Sanaubar, während sich die Farbe des Himmels von strahlendem Blau in Violett verwandelte. Als die Dunkelheit anbrach und die Wolken im Mondlicht badeten, war Hassan immer noch nicht zurückgekehrt. Sanaubar rief unter Tränen, dass ihre Rückkehr ein Fehler gewesen sei, vielleicht schlimmer noch als ihr Verschwinden. Aber ich überredete sie zu bleiben. Hassan würde wiederkommen, das wusste ich.
Er kehrte am nächsten Morgen müde und erschöpft zurück, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er nahm Sanaubars Hand in seine Hände und erklärte ihr, sie könne weinen, wenn ihr danach sei, aber sie brauche es nicht, denn sie sei nun zu Hause, zu Hause bei ihrer Familie. Er berührte die Narben in ihrem Gesicht und strich ihr übers Haar.
Hassan und Farzana pflegten sie gesund. Sie fütterten sie und wuschen ihre Kleidung. Ich gab ihr eins der Gästezimmer. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster des Arbeitszimmers in den Garten blickte, sah ich Hassan und seine Mutter nebeneinander knien und sich beim Tomatenpflücken oder beim Beschneiden der Rosenbüsche unterhalten — sie taten, was sie all die Jahre nicht hatten tun können. Soweit ich weiß, hat er sie nie gefragt, wo sie gewesen ist oder warum sie ihre Familie verlassen hat, und sie hat es nie erzählt. Manche Geschichten müssen wohl nicht erzählt werden.
Es war Sanaubar, die Hassans Sohn in jenem Winter 1990 auf die Welt holte. Es hatte noch nicht zu schneien begonnen, aber die Winterwinde bliesen durch den Garten, drückten die Köpfe der Blumen zu Boden und fuhren raschelnd durch die Blätter. Ich weiß noch, wie Sanaubar aus der Hütte kam und ihren Enkelsohn, der in eine Wolldecke gehüllt war, in den Armen hielt. Sie stand strahlend unter einem bedeckten, grauen Himmel, die Tränen liefen ihr über die Wangen, der eiskalte Wind blies ihr durch das Haar, und sie hielt diesen Jungen in ihren Armen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie reichte ihn Hassan, der ihn mir reichte, und ich sang das Ayat-ul-kursi- Gebet in das Ohr des kleinen Jungen.
Sie nannten ihn Suhrab, nach Hassans Lieblingshelden aus dem Shahname, wie du ja weißt, Amir jan. Er war ein wunderschöner kleiner Junge, so süß, und er besaß das gleiche Naturell wie sein Vater. Du hättest Sanaubar mit dem Jungen sehen sollen, Amir jan. Er wurde ihr Ein und Alles. Sie nähte Kleider für ihn, bastelte ihm Spielzeug aus Holzstückchen und Lumpen und getrocknetem Gras. Wenn er Fieber bekam, blieb sie die ganze Nacht auf und fastete drei Tage. Sie verbrannte isfand für ihn in einer Bratpfanne, um nazar, den bösen Blick, zu vertreiben. Als Suhrab zwei Jahre alt war, nannte er sie Sasa. Die beiden waren unzertrennlich.
Sie erlebte noch, wie er vier Jahre alt wurde, und dann, eines Morgens, wachte sie einfach nicht mehr auf. Sie machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, als hätte es ihr nichts ausgemacht, jetzt zu sterben. Wir begruben sie auf dem Friedhof, an dem Abhang, wo der Granatapfelbaum steht, und ich sprach auch für sie ein Gebet. Der Verlust traf Hassan hart — es ist immer schlimmer, etwas zu besitzen und dann zu verlieren, als es erst gar nicht zu besitzen. Aber viel schlimmer noch traf es den kleinen Suhrab. Er wanderte tagelang auf der Suche nach Sasa im Haus herum. Aber du weißt ja, wie kleine Kinder sind, sie vergessen so schnell.
Inzwischen — wir schrieben jetzt das Jahr 1995 — waren die Shorawi besiegt und längst verschwunden, und Kabul gehörte Massoud, Rabbani und den Mudjaheddin, die sich gegenseitig erbitterte Kämpfe um die Macht lieferten. Nie wusste man, ob man am Ende des Tages noch leben würde. Unsere Ohren gewöhnten sich an das Pfeifen der heranfliegenden Granaten, das Donnern des Ge fechtsfeuers, und unsere Augen gewöhnten sich an den Anblick von Männern, die Leichen unter Trümmern hervorzogen. Kabul war in jenen Tagen wahrhaftig der reinste Vorhof der Hölle, Amir jan. Aber Allah war uns dennoch freundlich gesinnt: Das Wazir-Akbar-Khan-Viertel wurde nicht so häufig angegriffen, und so erging es uns nicht ganz so schlimm wie einigen anderen Vierteln.
Wenn in jenen Tagen einmal weniger Raketen abgefeuert wurden und nicht ganz so viele Schüsse fielen, ging Hassan mit Suhrab in den Zoo, damit er sich Marjan, den Löwen, ansehen konnte, oder sie gingen ins Kino. Hassan brachte ihm bei, wie man eine Schleuder benutzt, und Suhrab stellte sich sehr geschickt damit an. Mit acht Jahren konnte er von der Terrasse aus einen Kiefernzapfen treffen, der in der Mitte des Gartens aufrecht auf einem Eimer platziert worden war. Hassan brachte ihm auch Lesen und Schreiben bei — sein Sohn sollte nicht ungebildet aufwachsen wie er. Ich begann an dem kleinen Jungen zu hängen — ich hatte gesehen, wie er die ersten Schritte tat, hatte ihn sein erstes Wort sprechen hören. Ich kaufte Suhrab Kinderbücher in dem Buchladen neben dem Park-Kino — das sie inzwischen auch zerstört haben —, und Suhrab las sie so schnell durch, dass ich kaum genug Nachschub besorgen konnte. Er erinnerte mich an dich, Amir jan, du hast, als du klein warst, auch unheimlich gern gelesen. Manchmal habe ich ihm abends etwas vorgelesen, ihm Rätsel aufgegeben und Kartenspielertricks beigebracht. Ich vermisse ihn schrecklich.
Im Winter nahm Hassan seinen Sohn mit zum Drachenlaufen. Es gab nicht annähernd so viele Drachenturniere wie in der guten alten Zeit — niemand fühlte sich draußen auf Dauer sicher —, aber hin und wieder wurde ein Kampf veranstaltet. Hassan setzte sich Suhrab auf die Schultern und trabte mit ihm durch die Straßen, jagte Drachen hinterher, kletterte auf Bäume, in denen sie gelandet waren. Weißt du noch, was für ein guter Drachenläufer Hassan einmal gewesen ist? Und er hatte nichts davon verlernt. Als der Winter zu Ende ging, hängten Hassan und Suhrab all die Drachen, die sie in der kalten Jahreszeit erlaufen hatten, an die Wände des großen Flurs. Wie Gemälde.
Ich habe dir ja erzählt, wie wir alle 1996 gefeiert haben, als die Taliban hereinrollten und den täglichen Kämpfen ein Ende bereiteten. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend nach Hause kam und Hassan in der Küche antraf, wo er Radio hörte. Sein Gesicht war ernst. Ich fragte ihn, was los sei, aber er schüttelte nur den Kopf. »Gott stehe jetzt den Hazara bei, Rahim Khan Sahib«, sagte er.
»Der Krieg ist vorbei«, erwiderte ich. »Es wird endlich Frieden geben, inshallah, und Glück und Ruhe. Keine Raketen mehr, kein Töten, keine Beerdigungen!« Aber er schaltete nur das Radio aus und fragte, ob er noch etwas für mich tun könne, bevor er zu Bett ging.
Einige Wochen später verboten die Taliban die Drachenkämpfe. Und zwei Jahre später, 1998, verübten sie ein Massaker an den Hazara in Mazar-e-Sharif.
Rahim Khan streckte langsam die Beine aus und lehnte sich vorsichtig und behutsam wie jemand, der bei jeder Bewegung vom Schmerz durchbohrt wird, an die nackte Wand. Draußen schrie ein Esel, und jemand rief etwas auf Urdu. Die Sonne ging langsam unter, glitzerte rot durch die Lücken zwischen den baufälligen Mauern.
Das ungeheure Ausmaß dessen, was ich in jenem Winter und dem darauf folgenden Sommer getan hatte, wurde mir aufs Neue bewusst. Namen schwirrten mir durch den Kopf: Hassan, Suhrab, Ali, Farzana, Sanaubar. Als Rahim Khan Alis Namen aussprach, war es, als würde man eine alte Spieldose öffnen und eine Melodie zum Leben erwecken, die man seit Jahren nicht mehr vernommen hatte: Wen hast du denn heute gefressen, Babalu? Wen hast du heute gefressen, du schlitzäugiger Esel! Ich versuchte mir Alis erstarrtes Gesicht vorzustellen, versuchte seine sanften Augen wirklich vor mir zu sehen, aber die Zeit ist manchmal ein gieriges Ding: Sie raubt die Ein zelheiten, will sie ganz für sich allein behalten.
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