Bald begann die Grenze zwischen Amirs Erinnerungen und meinen eigenen zu verschwimmen. Als ich durch die vom Krieg total verwüstete frühere Prachtmeile Jadeh-maywand Avenue fuhr, vorbei an eingestürzten Gebäuden, Schutthaufen, Einschusslöchern und zerstörten Häusern, in denen Bettler Schutz suchten, erinnerte ich mich, wie mein Vater mir hier in den frühen siebziger Jahren ein Eis gekauft hatte. Und ich erinnerte mich, dass Amir und sein Freund Hassan ihre Drachen in dieser Straße gekauft hatten, von einem blinden alten Mann namens Saifo. Ich setzte mich auf die bröckelnden Stufen des Cinema Park, wo mein Bruder und ich uns im Winter unbekannte russische Filme angeschaut hatten und wo Amir und Hassan ihren Lieblingswestern, Die glorreichen Sieben, nicht weniger als dreizehn Mal gesehen hatten.
Zusammen mit Amir kam ich an kleinen verrauchten Kebab-Häusern vorbei, in die uns unsere Väter früher mitnahmen. Schwitzende Männer saßen dort, die Beine übereinander geschlagen, hinter Holzkohlegrills und fachten fieberhaft Spieße mit zischenden Chopan-Kebabs an. Und als ich mich auf eine Bank im Ghazi-Stadion setzte und die Neujahrsparade, an der tausende Afghanen teilnahmen, anschaute, dachte ich daran, wie mein Vater und ich uns hier 1973 ein Buzkashi-Spiel angesehen hatten. Ich dachte aber auch an Amir, der beobachtet hatte, wie die Taliban in demselben Stadion ein Ehebrecher-Paar gesteinigt hatten, und zwar am südlichen Tor, wo jetzt eine Gruppe junger Männer in traditionellen Gewändern im Kreis Atan tanzte.
Doch wahrscheinlich prallten Fiktion und Leben nirgends so stark aufeinander wie in dem Moment, als ich das alte Haus meines Vaters in Wazir Akbar Khan entdeckte. Genau so und in derselben Gegend hat Amir das alte Haus seines Baba wiedergefunden. Ich musste drei Tage suchen — ich hatte keine Adresse, und die Gegend hatte sich extrem verändert —, doch ich hörte nicht auf zu suchen, bis ich den Bogen des Tores entdeckte.
Ich konnte mein altes Zuhause noch einmal betreten — die Nordallianz-Soldaten, die nun dort lebten, waren so großzügig, mir dieses nostalgische Vergnügen zu gewähren. Ich hatte den Eindruck, dass der Glanz verblasst war, das Gras war vertrocknet, die Bäume waren verschwunden, und der Putz bröckelte. Genau wie Amir traf es mich, wie klein das Haus doch war im Vergleich zu dem Haus, das so lang in meiner Erinnerung lebendig gewesen war. Und — ich schwöre es — als ich durch das Eingangstor trat, sah ich einen Rorschach-Ölfleck auf der Auffahrt, genau wie auf der Auffahrt von Amirs Vater.
Als ich mich verabschiedete und mich bei den Soldaten bedankte, begriff ich etwas: Meine emotionale Reaktion wäre viel intensiver gewesen, wenn ich den Drachen läufer nicht geschrieben hätte. Denn so hatte ich alles schon einmal durchlebt. Ich hatte neben Amir am Tor des Hauses seines Vaters gestanden, das blutdürstige Talibansoldaten in Besitz genommen hatten, und hatte seinen Verlust gespürt. Ich hatte gesehen, wie er seine Hände an das rostige Eisentor gelegt hatte, wir hatten gemeinsam auf das absackende Dach und die bröckelnden Eingangsstufen geblickt. Dass ich diese Szene geschrieben habe, nahm meiner eigenen Erfahrung die Schärfe.
Sagen wir, die Kunst nahm dem Leben den Wind aus den Segeln.
• Der Roman beginnt mit dem Satz: »An einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich — im Alter von zwölf Jahren — zu dem, der ich heute bin.« Auf was bezieht sich Amir? Ist seine Behauptung richtig? Welche anderen Einflüsse haben seinen Charakter geprägt? Wie würden Sie Amir beschreiben?
• Trotz der offenkundigen Bindung der beiden Jungen hat Amir Hassan nie als seinen wirklichen Freund betrachtet. Welche Parallelen zeichnen sich in den Beziehungen von Amir und Hassan einerseits und Baba und Ali andererseits ab? Wie würden Sie das Verhältnis der beiden Jungen zueinander beschreiben? Warum fügt Amir Hassan kleine Grausamkeiten zu? Haben Sie die wirkliche Beziehung zwischen beiden vor ihrer Auflosung am Schluss erraten? Wenn ja, an welcher Stelle und warum?
• Amirs innigster Wunsch ist es, seinem Vater zu gefallen. In welcher Weise gelingt ihm das und um welchen Preis? Was für eine Art von Mann ist Baba? Wie kann man sein Verhältnis zu Amir — und zu Hassan — beschreiben? Wie verändert sich das Verhältnis, und was löst diese Veränderungen aus?
• Nachdem Soraya Amir von ihrer Vergangenheit erzählt hat, sagt sie: »Welch ein Glück, dass ich dich gefunden habe. Du bist so anders als all die übrigen afghanischen Männer, die ich getroffen habe.« Was hal ten Sie von den Gründen, die Amir dafür anführt? Könnte es noch andere geben? Wie ergeht es afghanischen Frauen außerhalb Afghanistans, wie ergeht es ihnen in Deutschland?
• Auf der Fahrt nach Kabul sagt Farid zu Amir: »Du bist hier immer nur Tourist gewesen. Du wusstest es nur nicht.« Was meint Farid damit? Wie beurteilen Sie diese Folgerung? Amir fühlt sich »wieder zu Hause«, aber wie gut kennt oder versteht er sein Heimatland wirklich?
• Wie schafft es Hosseini, die Schreckensherrschaft der Taliban so lebendig darzustellen? Welche Rolle spielt Assef in diesem Zusammenhang?
• »Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen«, verspricht Rahim Khan. Diese Aussage findet den ganzen Roman hindurch ihren Nachhall. Bewahrheitet sie sich in Amirs Fall? Wie wichtig ist Rahim Khan für Amir?
• Wie wichtig ist die Geschichte von Rostam und Sohrab? Welche Bedeutung hat sie für Hassan und Amir?
• Welche Bedeutung hat Religion im Roman? Welche Einstellung haben die Hauptcharaktere zu ihr? Wie lassen sie sich mit den verbreiteten westlichen Vorstellungen vom Islam vergleichen?
• Welche Bedeutung haben Drachen? Was symbolisieren sie Ihrer Meinung nach? Wer ist der Drachenläufer, der dem Buch seinen Titel gibt?
Die Schreibweise der Namen und kursiv gesetzten Begriffe aus dem Arabischen, Dari (Afghanischen), Farsi (Persischen) und dem Paschto folgt den Regeln der englischen Umschrift.