Khaled Hosseini - Drachenläufer

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Afghanistan 1975: In Kabul wächst der zwölfjährige Amir auf, der mit Hilfe seines Freundes Hassan unbedingt einen Wettbewerb im Drachensteigen gewinnen will. Hassans Vater ist der Diener von Amirs Vater, doch trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft verbindet die beiden Jungen eine innige Freundschaft. Am Ende des erfolgreichen Wettkampfs wird die Freundschaft von Amir auf schreckliche Weise verraten. Diese Tat verändert das Leben beider dramatisch, ihre Wege trennen sich. Viele Jahre später kehrt der erwachsene Amir aus dem Ausland in seine Heimatstadt Kabul zurück, um seine Schuld zu tilgen.
Der Leser wird Zeuge der dramatischen Schicksale der beiden Jungen, ihrer Väter und Freunde, und erlebt ihre Liebe und ihre Lügen, ihre Trennung und Wiedergutmachung.
»Ein kleines literarisches Wunder… das wohl spannendste Buch über die Menschen in Afghanistan.« Die Tageszeitung

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Khaled Hosseini

Drachenläufer

Drachenläufer erzählt vom Schicksal der beiden Jungen Amir und Hassan und ihrer unglücklichen Freundschaft. Eine dramatische Geschichte von Liebe und Verrat, Trennung und Wiedergutmachung vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit Afghanistans.

Khaled Hosseini wurde 1965 in Kabul, Afghanistan, als Sohn eines Diplomaten geboren. Seine Mutter unterrichtete Persisch und Geschichte. Die Familie verließ Afghanistan 1976, als Khaleds Vater eine Stelle an der Afghanischen Botschaft in Paris bekam. 1980 emigrierte die Familie in die Vereinigten Staaten. Hosseini studierte Medizin in San Diego und arbeitete anschließend als Internist. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Kalifornien. Drachenläufer ist sein erster Roman, er ist inzwischen in 35 Ländern erschienen, war in den USA monatelang Bestseller Nr. 1 und hat sich dort bereits über eine Million Mal verkauft.

Drachenläufer

Dieses Buch widme ich Hans und Farah, meinen beiden Augensternen, und den Kindern von Afghanistan.

1

Dezember 2001

An einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich — im Alter von zwölf Jahren — zu dem, der ich heute bin. Ich erinnere mich noch genau an den Moment: Ich hockte hinter einer bröckelnden Lehmmauer und spähte in die Gasse in der Nähe des zugefrorenen Bachs. Viel Zeit ist inzwischen vergangen, aber das, was man über die Vergangenheit sagt, dass man sie begraben kann, stimmt nicht. So viel weiß ich nun. Die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir bewusst, dass ich die letzten sechsundzwanzig Jahre immerzu in diese einsame Gasse gespäht habe.

Im vergangenen Sommer rief mich eines Tages mein Freund Rahim Khan aus Pakistan an. Er bat mich, ihn zu besuchen. Während ich in der Küche stand und den Hörer ans Ohr hielt, wusste ich, dass das da am Telefon nicht nur Rahim Khan war. Es war die ungesühnte Schuld meiner Vergangenheit. Nachdem ich aufgelegt hatte, machte ich einen Spaziergang entlang dem Spreckels Lake am nördlichen Rand des Golden Gate Parks. Die frühe Nachmittagssonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen Brise angetrieben, dahinsegelten. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen — rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks, schwebten Seite an Seite wie ein Augenpaar, das auf San Francisco hinunterblickte, die Stadt, die ich heute mein Zuhause nenne. Und plötzlich flüsterte Hassans Stimme in meinem Kopf: Für dich — tausendmal. Hassan mit der Hasenscharte, der so gern Drachen steigen ließ.

Ich setzte mich auf eine Parkbank in der Nähe einer Weide und dachte über etwas nach, was Rahim Khan, kurz bevor er auflegte — als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen —, gesagt hatte. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen. Ich blickte zu den beiden Drachen hinauf. Ich dachte an Hassan. An Baba. An Ali. An Kabul. Ich dachte an das Leben, das ich geführt hatte, bis jener Winter des Jahres 1975 kam und alles veränderte. Und mich zu dem machte, der ich heute bin.

2

Als Kinder kletterten Hassan und ich auf die Pappeln entlang der Auffahrt zum Haus meines Vaters und ärgerten unsere Nachbarn, indem wir die Sonnenstrahlen mit einer Spiegelscherbe in ihre Häuser reflektierten. Wir saßen mit baumelnden nackten Füßen auf zwei hohen Ästen einander gegenüber, die Taschen voller getrockneter Maulbeeren und Walnüsse, und wechselten uns mit dem Spiegel ab, während wir die Maulbeeren vertilgten und uns kichernd damit bewarfen. Ich sehe Hassan immer noch vor mir auf diesem Baum. Das durch die Blätter gefilterte Sonnenlicht schimmerte auf seinem beinahe perfekt gerundeten Gesicht, dem Gesicht einer chinesischen Puppe, aus Hartholz geschnitten: flache, breite Nase und schräge, schmale Augen, die an Bambusblätter erinnerten, Augen, die je nach Licht gold, grün oder sogar saphirblau glänzten. Ich sehe immer noch seine winzigen, tief am Kopf sitzenden Ohren und diesen spitzen Stummel von einem Kinn vor mir, der wie nachträglich angeklebt wirkte. Und den Spalt in der Oberlippe, direkt links neben der Einbuchtung, wo das Werkzeug des chinesischen Puppenmachers wohl abgerutscht sein musste — oder vielleicht war er auch einfach müde und nachlässig geworden.

Manchmal, wenn wir dort oben in den Bäumen saßen, überredete ich Hassan, mit seiner Schleuder Walnüsse auf den einäugigen deutschen Schäferhund unseres Nachbarn zu schießen. Hassan wollte das eigentlich nie, aber wenn ich ihn darum bat, ihn wirklich darum bat, konnte er es mir nicht abschlagen. Hassan schlug mir nie etwas ab. Und er war unglaublich treffsicher mit seiner Schleuder. Hassans Vater, Ali, erwischte uns für gewöhnlich dabei und wurde wütend — oder zumindest so wütend, wie jemand, der so sanft war wie Ali, eben werden konnte. Er drohte uns mit dem Finger und winkte uns vom Baum herunter. Dann nahm er uns den Spiegel ab und belehrte uns mit den Worten, die er von seiner Mutter kannte und die besagten, dass auch der Teufel mit Spiegeln blendete, sie dazu benutzte, Muslime vom Beten abzulenken. »Und er lacht dabei«, fügte er immer hinzu und bedachte seinen Sohn mit einem finsteren Blick.

»Ja, Vater«, murmelte Hassan dann und sah auf seine Füße hinunter. Aber er verriet mich nie. Verriet nie, dass der Spiegel ebenso wie das Schießen der Walnüsse auf den Nachbarhund immer meine Idee gewesen war.

Die Pappeln säumten die mit roten Ziegelsteinen gepflasterte Auffahrt, die zu dem schmiedeeisernen Flügeltor führte. Das Tor wiederum öffnete sich auf eine Verlängerung der Auffahrt, die Vaters Anwesen durchquerte. Das Haus befand sich auf der linken Seite des Weges, der Garten am Ende.

Alle waren sich einig, dass mein Vater, mein Baba, das schönste Haus im ganzen Wazir-Akbar-Khan-Viertel, einem neuen und wohlhabenden Stadtteil im Norden Kabuls, gebaut hatte. Manche hielten es sogar für das schönste Haus in ganz Kabul. Ein breiter, von Rosenbüschen flankierter Weg führte zu dem geräumigen Haus mit den Marmorböden und großen Fenstern. Mosaikfliesen mit komplizierten Mustern, von Baba sorgfältig in Isfahan ausgewählt, bedeckten die Böden der vier Badezimmer. Mit Goldfäden durchwirkte Gobelins, die Baba in Kalkutta gekauft hatte, zierten die Wände; ein kristallener Kronleuchter hing von der gewölbten Decke herab.

Oben befanden sich mein Zimmer, Babas Zimmer und sein Arbeitszimmer, auch »Rauchzimmer« genannt, in dem es ständig nach Tabak und Zimt roch. Nachdem Ali das Abendessen serviert hatte, ruhten sich in diesem Zimmer Baba und seine Freunde in schwarzen Ledersesseln aus. Sie stopften ihre Pfeifen — was Baba immer als »füttern« bezeichnete — und unterhielten sich über ihre drei Lieblingsthemen: Politik, Geschäfte und Fußball. Manchmal fragte ich Baba, ob ich bei ihnen sitzen dürfe, aber Baba blieb im Türrahmen stehen und sagte: »Jetzt geh nur. Diese Zeit gehört den Erwachsenen. Warum liest du nicht eins deiner Bücher?« Dann schloss er die Tür, und ich blieb zurück und fragte mich, warum seine Zeit immer nur den Erwachsenen vorbehalten war. Ich setzte mich neben die Tür und zog die Knie an die Brust. Manchmal saß ich eine ganze Stunde so da, manchmal auch zwei, und lauschte ihrem Lachen und ihrem Plaudern.

Im Wohnzimmer unten gab es eine halbrunde Wand mit speziell angefertigten Vitrinen. Darin standen gerahmte Familienfotos: ein altes, unscharfes Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, das 1931 gemacht worden war, zwei Jahre vor dem tödlichen Attentat auf den König; darauf sind sie mit einem toten Hirsch zu sehen, der vor ihren in kniehohen Stiefeln steckenden Füßen liegt, und über die Schulter haben sie Gewehre gehängt. Ein anderes Foto zeigte meine Eltern an ihrem Hochzeitsabend: ein schneidig aussehender Baba in ei nem schwarzen Anzug und meine Mutter, eine lächelnde junge Prinzessin in Weiß. Und da war Baba mit seinem besten Freund und Geschäftspartner, Rahim Khan. Die beiden stehen draußen vor unserem Haus. Keiner von ihnen lächelt. Ich bin auf diesem Foto noch ein Baby, und ein müder und grimmig dreinblickender Baba hält mich auf dem Arm, aber es ist Rahim Khans kleiner Finger, den ich mit meiner Hand umklammere.

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