In der folgenden Woche zeigte ich das Buch nach dem Unterricht meinem Lehrer und deutete auf das Kapitel über die Hazara. Er überflog einige Seiten, kicherte und reichte es mir zurück. »Eins können die Schiiten wirklich gut«, sagte er und griff nach seinen Unterlagen, »sich selbst als Märtyrer hinstellen.« Er rümpfte die Nase, als er das Wort Schiiten aussprach, ganz so, als handelte es sich dabei um eine Krankheit.
Doch trotz ihres gemeinsamen ethnischen Erbes und obwohl das gleiche Blut in ihren Adern floss, tat es Sanaubar den Kindern des Viertels nach und verspottete Ali. Es hieß, sie habe kein Geheimnis aus ihrer Verachtung für sein Aussehen gemacht.
»Soll das etwa ein Ehemann sein?«, lauteten ihre höhnischen Worte. »Ich habe schon alte Esel gesehen, die besser als Ehemänner getaugt hätten.«
Am Ende vermuteten die meisten heute, dass die Eheeine Vereinbarung oder etwas Ähnliches zwischen Ali und seinem Onkel, Sanaubars Vater, gewesen war. Sie behaupteten, Ali habe seine Cousine geheiratet, um dabei zu helfen, den befleckten Namen des Onkels ein wenig reinzuwaschen und dessen Ehre wiederherzustellen, auch wenn er, der mit fünf Jahren zum Waisen geworden war, kein nennenswertes Erbe oder sonstigen Besitz vorweisen konnte.
Ali wehrte sich niemals gegen seine Peiniger. Ich nehme an, das hatte zum Teil damit zu tun, dass er sie mit seinem verwachsenen Bein niemals erwischt hätte. Aber eigentlich lag es wohl daran, dass Ali den Beleidigungen seiner Angreifer gegenüber immun war. Er hatte seine Freude, sein Gegenmittel in dem Moment gefunden, als Sanaubar Hassan zur Welt brachte. Es war eine unkomplizierte Geburt gewesen. Keine Gynäkologen, keine Anästhesisten, keine aufwändigen Überwachungsgeräte. Nur Sanaubar, die auf einer fleckigen, nackten Matratze lag, und Ali und eine Hebamme, die ihr halfen. Dabei hatte sie gar nicht viel Hilfe gebraucht, denn gleich bei seiner Geburt offenbarte Hassan seine Natur: Er war unfähig, einem anderen Wesen Schmerz zuzufügen. Ein paar Ächzer, ein paarmal pressen, und schon kam Hassan heraus. Lächelnd.
Laut der geschwätzigen Hebamme, die es der Dienerin eines Nachbarn anvertraut hatte, die es wiederum jedem erzählte hatte, der es hören wollte, hatte Sanaubar nur einen einzigen Blick auf das Baby in Alis Armen geworfen, die gespaltene Lippe gesehen und dann ein bitteres Lachen ausgestoßen.
»Na also«, hatte sie gesagt, »jetzt hast du ja deinen eigenen Schwachkopf von einem Sohn, der das Lächeln für dich übernehmen kann!« Sie hatte sich geweigert, Hassan auch nur einmal zu halten, und nur fünf Tage später war sie verschwunden.
Baba stellte für Ali die gleiche Amme ein, die schon mich gestillt hatte. Ali erzählte uns, sie sei eine blauäugige Hazara-Frau aus Bamiyan gewesen, der Stadt mit den riesigen Buddha-Statuen. »Was für eine liebliche Stimme sie hatte, wenn sie sang«, erklärte er uns immer wieder.
Was sie denn gesungen habe, fragten Hassan und ich dann für gewöhnlich, obwohl wir es längst wussten — Ali hatte es uns schon unzählige Male erzählt. Wir wollten ihn bloß singen hören.
Er räusperte sich dann immer und begann:
Ich stand auf einem hohen Berg
Und rief den Namen Alis, des Löwen Gottes.
Oh Ali, Löwe Gottes, König der Menschen,
Bring Freude in unsere traurigen Herzen.
Anschließend erinnerte er uns daran, dass eine Brüder lichkeit zwischen Menschen besteht, die von derselben Brust getrunken haben, eine Verwandtschaft, die nicht einmal die Zeit zu zerstören vermag.
Hassan und ich hatten von derselben Brust getrunken. Wir machten unsere ersten Schritte auf demselben Rasen im selben Garten. Und unter demselben Dach sprachen wir unsere ersten Worte.
Meins lautete Baba.
Seins lautete Amir. Mein Name.
Wenn ich heute zurückblicke, so glaube ich, dass das Fundament für das, was im Winter des Jahres 1975 geschah — und auch für das, was folgte —, bereits mit diesen ersten Worten gelegt wurde.
Wenn man den Erzählungen glauben darf, hat mein Vater einmal in Belutschistan mit bloßen Händen mit einem Schwarzbären gerungen. Wäre in den Geschichten von jemand anderem die Rede gewesen, hätte man sie wohl als laaf abgetan, jene afghanische Vorliebe fürs Übertreiben — leider beinahe so etwas wie eine Nationalkrankheit. Wenn einer damit prahlte, dass sein Sohn Arzt war, konnte man davon ausgehen, dass das Kind in der Schule einmal eine Biologieprüfung bestanden hatte. Aber niemand bezweifelte jemals die Richtigkeit irgendeiner Geschichte, in der es um Baba ging. Und falls jemand es doch wagte, nun, Baba hatte tatsächlich diese drei parallel verlaufenden Narben, die einen schartigen Pfad über seinen Rücken zogen. Ich habe mir unzählige Male Babas Ringkampf vorgestellt, sogar davon geträumt. Und in diesen Träumen vermag ich Baba nie von dem Bären zu unterscheiden.
Es war Rahim Khan, der zum ersten Mal in einer Weise von ihm sprach, die später zu Babas berühmtem Spitznamen führen sollte: Toophan agha, Herr Wirbelsturm. Es war ein überaus passender Spitzname. Mein Vater war eine Naturgewalt, ein hoch gewachsenes Exemplar von einem Paschtunen mit einem dichten Bart, eigensinnigem, lockigem braunem Haar, das zu einem Kurzhaarschnitt gestutzt und ebenso ungebärdig war wie der Mann selbst, mit Händen, die den Eindruck erweckten, eine Weide mitsamt ihrer Wurzel ausreißen zu können, und einem düsteren, stechenden Blick, der es vermochte, »den Teufel in die Knie zu zwingen und um Gnade flehen zu lassen«, wie Rahim Khan es auszudrücken pflegte. Wenn er auf Partys mit seinen gut einen Meter fünfundachtzig in den Raum gestürmt kam, richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn wie Sonnenblumen, die sich der Sonne zuwenden.
Es war unmöglich, Baba zu ignorieren, selbst wenn er schlief. Ich steckte mir Baumwollbüschel in die Ohren, zog mir die Decke über den Kopf, und dennoch drangen die Geräusche von Babas Schnarchen — die einem brum menden Lastwagenmotor ähnelten — durch die Wände. Und mein Zimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, gegenüber von seinem Schlafzimmer. Wie meine Mutter es jemals geschafft hat, im selben Zimmer mit ihm zu schlafen, ist eine der vielen Fragen, die ich meiner Mutter gern gestellt hätte, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, sie kennen zu lernen.
Ende der 60er-Jahre, als ich fünf oder sechs war, beschloss Baba, ein Waisenhaus zu bauen. Ich hörte die Geschichte von Rahim Khan. Er erzählte mir, dass Baba die Blaupausen selbst gezeichnet habe, obwohl er überhaupt keine Erfahrung auf dem Gebiet der Architektur besaß. Skeptiker hatten ihn gedrängt, mir dieser Tollheit aufzuhören und einen Architekten zu beauftragen. Natürlich hatte sich Baba geweigert, und alle hatten angesichts seiner Sturheit die Köpfe geschüttelt. Doch Baba hatte Erfolg, und so schüttelten sie schon bald angesichts seines Triumphes die Köpfe. Baba bezahlte die Errichtung des zweistöckigen Waisenhauses an der Jadeh Maywand — einer der Hauptstraßen Kabuls, südlich des Kabul-Flusses — aus eigener Tasche. Rahim Khan erzählte mir, dass Baba das ganze Projekt allein finanzierte, die Löhne der Ingenieure, Elektriker, Klempner, der Arbeiter und nicht zu vergessen der städtischen Beamten, deren »Schnurrbärte geölt werden mussten«, eingeschlossen.
Der Bau des Waisenhauses dauerte drei Jahre. Ich war inzwischen acht. Ich erinnere mich noch an den Tag vor der Eröffnung, als Baba mich zum Ghargha-See mitnahm, der einige Kilometer nördlich von Kabul liegt. Er trug mir auf, Hassan zu holen, damit er auch mitfahren konnte, doch ich log und behauptete, dass Hassan Durchfall habe. Ich wollte Baba für mich allein haben. Und außerdem hatte es Hassan, als wir einmal gemeinsam am Ghargha-See waren und Steine über das Wasser hüpfen ließen, geschafft, seinen Stein achtmal springen zu lassen. Meine Bestleistung war fünfmal gewesen. Baba war damals dabei gewesen, hatte uns zugesehen und Hassan auf den Rücken geklopft. Sogar den Arm um ihn gelegt.
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