Irgendwann streckte Baba den Arm aus und zeigte auf jemanden. »Amir, siehst du den Mann da, der da drüben inmitten der anderen Männer sitzt?«
Das tat ich.
»Das ist Henry Kissinger.«
»Oh«, sagte ich. Ich wusste nicht, wer Henry Kissinger war, und ich hätte Baba wohl nach ihm gefragt. Aber in dem Moment sah ich voller Entsetzen, wie einer der chapandaz vom Pferd fiel und unter einer Vielzahl von Hufen zertrampelt wurde. Sein Körper wurde im wilden Gedränge hin und her geschleudert wie eine Lumpenpuppe und blieb schließlich nach einer letzten Drehung liegen, während die Meute weiterzog. Er zuckte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr, die Beine in einem unnatürlichen Winkel verdreht, während langsam eine Blutlache im Sand versickerte.
Ich brach in Tränen aus. Ich weinte auf dem gesamten Nachhauseweg. Ich weiß noch, wie sich Babas Hände um das Lenkrad klammerten. Sie packten es, und dann lockerte sich ihr Griff wieder, um kurz darauf erneut fest zuzupacken. Aber am deutlichsten stehen mir immer noch Babas tapfere Versuche vor Augen, den angewiderten Ausdruck auf seinem Gesicht zu verbergen, während er den Wagen schweigend nach Hause fuhr.
Später am selben Abend, als ich am Arbeitszimmer meines Vaters vorbeiging, hörte ich ihn mit Rahim Khan reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür.
»…dankbar sein, dass er gesund ist«, sagte Rahim Khan.
»Ich weiß, ich weiß. Aber er vergräbt sich ständig in seinen Büchern oder schlurft traumverloren durch das Haus.«
»Ja und?«
»Ich war nie so.« Baba klang frustriert, beinahe wütend.
Rahim Khan lachte. »Kinder sind doch nicht wie Malbücher. Du kannst sie nicht mit deinen Lieblingsfarben ausmalen.«
»Ich sage dir«, fuhr Baba fort, »ich war ganz und gar nicht so, und auch keines der Kinder, mit denen ich groß geworden bin.«
»Weißt du, manchmal bist du der egozentrischste Mann, den ich kenne«, erklärte Rahim Khan. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der so etwas zu Baba sagen durfte.
»Damit hat das nichts zu tun.«
»Ach, nein?«
»Nein.«
»Sondern?«
Ich hörte, wie das Leder von Babas Sessel knarrte, als er sich darin bewegte. Ich schloss die Augen und presste mein Ohr noch fester an die Tür, wollte alles hören und auch wieder nicht. »Manchmal schaue ich aus diesem Fenster und sehe ihn auf der Straße mit Nachbarjungen spielen. Ich sehe, wie sie ihn herumschubsen, ihm sein Spielzeug wegnehmen, ihm einen Stoß oder einen Schlag versetzen. Und er wehrt sich einfach nicht. Nie. Er… er lässt bloß den Kopf hängen und…«
»Na schön, er ist also kein gewalttätiger Mensch.«
»Das meine ich nicht, Rahim, und das weißt du auch«, schoss Baba zurück. »Dem Jungen fehlt einfach etwas.«
»Ja, ein gemeiner Zug.«
»Selbstverteidigung hat nichts mit Gemeinheit zu tun. Weißt du, was passiert, wenn ihn die Nachbarjungen hänseln? Hassan geht dazwischen und vertreibt sie. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Immer wieder. Und wenn die beiden nach Hause kommen und ich zu ihm sage ›Wie ist Hassan denn an die Schramme in seinem Gesicht gekommen?‹, antwortet er: ›Er ist hingefallen.‹ Lass dir gesagt sein, Rahim, dem Jungen fehlt etwas.«
»Er muss erst noch seinen Weg finden, das ist alles«, sagte Rahim Khan.
»Und wohin soll der führen?«, fragte Baba. »Ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für nichts eintritt.«
»Du vereinfachst die Dinge wieder einmal zu sehr.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du bist sauer, weil du Angst davor hast, dass er niemals dein Geschäft übernehmen wird.«
»Und wer vereinfacht die Dinge jetzt?«, erwiderte Baba. »Hör zu, ich weiß, dass da eine Zuneigung zwischen euch beiden ist, und das freut mich. Ich bin neidisch, aber es freut mich. Das ist mein Ernst. Er braucht jemanden, der… ihn versteht, denn ich tue es weiß Gott nicht. Aber etwas an Amir beunruhigt mich auf eine Weise, die ich nicht auszudrücken vermag. Es ist ganz so, als ob…« Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er nach den richtigen Worten suchte. Er senkte die Stimme, aber ich hörte ihn trotzdem. »Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, wie der Arzt ihn aus meiner Frau herausgezogen hat, dann hätte ich niemals geglaubt, dass er mein Sohn ist.«
Am nächsten Morgen, als er mir das Frühstück zubereitete, fragte mich Hassan, ob mich etwas bedrücke. Ich schnauzte ihn an, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Ob Rahim Khan das mit dem fehlenden gemeinen Zug wohl auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge dieser Reaktion geworden wäre?
1933, in dem Jahr, als Baba geboren wurde — das gleiche Jahr, in dem Zahir Shah seine vierzigjährige Herrschaft über Afghanistan antrat —, setzten sich zwei Brüder, junge Männer aus einer reichen und angesehenen Kabuler Familie, ans Steuer des Ford Roadster ihres Vaters. Mit Haschisch bekifft und mast mit französischem Wein, überfuhren sie auf der Straße nach Paghman einen Mann und seine Frau, die vom Volk der Hazara stammten, und töteten sie. Die Polizei brachte die ein wenig zerknirschten jungen Männer und den fünfjährigen Sohn des Ehe paars — nun ein Waisenkind — vor meinen Großvater, der ein hoch angesehener Richter war und einen untadeligen Ruf genoss. Nachdem er sich die Darstellung der Brüder und die flehentlichen Worte ihres Vaters angehört hatte, befahl mein Großvater den beiden jungen Männern, sofort nach Kandahar zu gehen und sich für ein Jahr zur Armee zu melden — obwohl es ihre Familie irgendwie geschafft hatte, sie von der Einberufung befreien zu lassen. Ihr Vater widersprach, aber nicht allzu heftig, und am Ende stimmten alle darin überein, dass die Strafe vielleicht hart, aber gerecht war. Und was das Waisenkind anging, so nahm mein Großvater es in seinen Haushalt auf und wies die Dienstboten an, den Jungen zu erziehen und nett zu ihm zu sein. Dieser Junge war Ali.
Ali und Baba wuchsen zusammen auf, und sie spielten auch zusammen — zumindest so lange, bis die Polioinfektion Alis Bein verkrüppelte —, genau wie Hassan und ich es eine Generation später taten. Baba erzählte uns immer von dem Unfug, den Ali und er angestellt hatten, und dann schüttelte Ali den Kopf und sagte:
»Aber Aga Sahib, sagt ihnen doch, wer der Baumeister des Unfugs gewesen ist und wer der arme Arbeiter.« Und dann lachte Baba und schloss Ali in die Arme.
Aber in keiner seiner Geschichten sprach Baba jemals von Ali als seinem Freund.
Das Seltsame war, dass auch ich Hassan und mich nie als Freunde betrachtete. Zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne. Auch wenn wir beide einander beibrachten, freihändig Fahrrad zu fahren oder eine voll funktionsfähige Kamera aus Pappkarton zu bauen. Auch wenn wir ganze Winter damit zubrachten, Drachen steigen zu lassen. Auch wenn für mich das Gesicht Afghanistans das eines Jungen mit einer zartgliedrigen Gestalt, einem rasierten Kopf und tief sitzenden Ohren ist, eines Jungen, dessen chinesisches Puppengesicht ständig von einem Hasenscharten-Lächeln erhellt wird.
All das spielte keine Rolle. Denn es ist nicht so leicht, die Geschichte zu überwinden. Und auch nicht die Religion. Am Ende war ich ein Paschtune und er ein Hazara, ich war Sunnit und er Schiit, und nichts würde das jemals ändern. Nichts.
Aber wir waren Kinder, die zusammen laufen gelernt hatten, und auch dies würde sich weder durch die Ge schichte noch durch ethnische Unterschiede, Gesellschaft oder Religion jemals ändern. Ich verbrachte den größten Teil meiner ersten zwölf Jahre beim Spiel mit Hassan. Manchmal kommt mir meine ganze Kindheit wie ein einziger träger Sommertag mit Hassan vor, an dem wir zwischen dem Gewirr von Bäumen im Garten meines Vaters Fangen und Verstecken, Räuber und Polizist, Cowboy und Indianer spielten und Insekten quälten — wobei die Krönung unzweifelhaft das eine Mal war, als wir einer Biene den Stachel herauszogen und dem armen Ding eine Schnur umbanden, an der wir es zurückrissen, wenn es davonfliegen wollte.
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