Suhrab schwieg, nicht so die Welt. An einem Dienstagmorgen im September des vergangenen Jahres stürzten die Türme des World Trade Center ein, und überNacht wurde alles anders. Überall sah man plötzlich das Sternenbanner: an den Antennen der Taxis, an den Revers der Passanten auf den Gehwegen, selbst an den speckigen Mützen der Bettler von San Francisco, die unter den Markisen der kleinen Kunstgalerien und offenen Läden saßen. Eines Tages kam ich an Edith vorbei, einer obdachlosen Frau, die Tag für Tag an der Ecke Sutter und Stockton Akkordeon spielte. Auf ihrem Instrumentenkoffer klebte die amerikanische Flagge.
Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert.
Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihre Höhlen. Die Namen der Städte meiner Kindheit — Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif — waren plötzlich in aller Munde. Vor vielen, vielen Jahren hatte Baba einmal mit Hassan und mir eine Fahrt nach Kunduz unternommen. Mir ist nur wenig davon in Erinnerung geblieben, nicht viel mehr als das Bild, wie wir, im Schatten einer Akazie sitzend, abwechselnd aus einem Keramikbecher den frischen Saft einer Wassermelone trinken und mit den Kernen um die Wette weitspucken. Jetzt hörte man im Cafe an der Ecke, wie sich Gäste über Kunduz als die letzte Talibanbastion im Norden unterhielten.
Im Dezember trafen sich Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara in Bonn, um unter Beobachtung der Vereinten Nationen einen Friedensprozess in Gang zu setzen, der dem unseligen, seit über zwanzig Jahren herrschenden Unglück in ihrem watan ein Ende setzen sollte. Hamid Karzais Pelzkappe und grüner chapan machten Mode.
Suhrab bekam von alledem nichts mit.
Soraya und ich engagierten uns für Afghanistan-Projekte, nicht nur, weil wir uns als Bürger dazu aufgerufen fühlten; es ging uns vor allem auch darum, diese Stille in unserem Haus auszufüllen, die wie ein schwarzes Loch alles in sich aufzusaugen drohte. Ich war nie besonders aktiv gewesen, machte aber dann die Bekanntschaft mit einem Mann namens Kabir, einem ehemaligen afghanischen Botschafter in Sofia, der mich bat, an einem Krankenhausprojekt mitzuwirken. Ich erklärte mich einverstanden. Das Krankenhaus, um das es ging, lag in Rawalpindi, nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze, und war mit einer kleinen chirurgischen Abteilung aus gestattet, in der Opfer von Landminen versorgt werden konnten. Es hatte aus finanziellen Gründen dichtmachen müssen. Mir übertrug man nun die Aufgabe der Geldbeschaffung, hoffte auf meine Reputation als Schriftsteller. Die meiste Zeit des Tages brachte ich in meinem Arbeitszimmer zu, korrespondierte mit Leuten auf der ganzen Welt, beantragte Fördermittel und organisierte Sponsorenveranstaltungen. Und redete mir unverdrossen weiter ein, dass es richtig gewesen war, Suhrab zu mir zu holen.
Den Silvesterabend verbrachten Soraya und ich auf dem Sofa; wir hatten uns eine Decke über die Beine gelegt und sahen fern: eine Show mit Dick Clark. Unter großem Gejohle zersprang die silberne Kugel, und alles verschwand im weißen Konfettiwirbel. Bei uns zu Hause fing das neue Jahr genauso an, wie das alte geendet hatte. In Stille.
Dann, vor knapp einer Woche, an einem kühlen, regnerischen Märztag im Jahre 2002, ereignete sich ein kleines Wunder.
Ich fuhr mit Soraya, Khala Jamila und Suhrab zu einem Treffen afghanischer Landsleute im Lake Elizabeth Park in Fremont. Der General war im Vormonat für einen Ministerposten nach Afghanistan geholt worden und seit zwei Wochen in Kabul. Khala Jamila sollte nachkommen, sobald er sich eingerichtet haben würde. Sie vermisste ihn sehr und machte sich große Sorgen um seine Gesundheit. Wir hatten darauf bestanden, dass sie bis auf weiteres bei uns wohnte.
Am vorausgegangenen Donnerstag war Frühlingsanfang gewesen, nach afghanischem Kalender Neujahr — Sawl-e-nau —, und der wurde unter den an der East Bay und auf der Halbinsel lebenden Afghanen groß gefeiert. Kabir, Soraya und ich hatten einen weiteren Grund zur Freude: Unser kleines Krankenhaus in Rawalpindi hatte vor einer Woche wieder aufgemacht, wenn auch fürs Erste nur mit einer pädiatrischen Abteilung. Es war nach Einschätzung aller dennoch ein guter Anfang.
Tagelang hatte die Sonne geschienen, doch als ich am Sonntagmorgen erwachte, klatschten schwere Regentropfen an die Fensterscheibe. Afghanisches Glück, dachte ich und schmunzelte in mich hinein. Während Soraya noch schlief, hielt ich mein allmorgendliches naaz — wozu ich das von der Moschee zur Verfügung gestellte Gebetbuch nicht mehr nötig hatte. Inzwischen konnte ich die Suren auswendig.
Gegen Mittag waren wir vor Ort und trafen nur eine Hand voll Leute an, die unter einer großen, zwischen sechs Zeltstangen aufgespannten Plastikplane Schutz gefunden hatten. Irgendjemand briet bolani. In einem Topf schmorte Blumenkohl, und aus den Teetassen stieg Dampf auf. Aus einem Kassettenrecorder dröhnte ein altes Lied von Ahmad Zahir. Ich musste lachen, als wir zu viert über den aufgeweichten Rasen auf die kleine Festtagsgesellschaft zugingen, Soraya und ich vornweg, Khala Jamila in der Mitte und Suhrab als Schlusslicht. Die Kapuze seines gelben Regenmantels war ihm in den Nacken gerutscht.
»Was ist denn so komisch?«, fragte Soraya, die eine gefaltete Zeitung über den Kopf hielt.
»Man kann Afghanen aus Paghman herausholen, aber eine Handvoll Afghanen macht noch lange kein Paghman«, antwortete ich.
Wir traten unter das provisorische Zeltdach. Soraya und Khala Jamila steuerten auf eine schwergewichtige Frau zu, die in einer Pfanne Spinat -bolani briet. Nach nur kurzem Aufenthalt unter dem Zeltdach kehrte Suhrab, die Hände tief in die Taschen seines Mantels gestopft, in den Regenschauer zurück. Sein Haar, das inzwischen so braun und glatt geworden war wie das von Hassan, klebte ihm an der Kopfhaut. Vor einer Pfütze blieb er stehen und starrte in das kaffeebraune Wasser. Niemand schien auf ihn zu achten. Niemand rief ihn zurück. In letzter Zeit waren die neugierigen Fragen nach unserem adoptierten und so absonderlichen Jungen deutlich seltener geworden, was uns sehr erleichterte, zumal in afghanischen Kreisen Erkundigungen dieser Art ausgesprochen taktlos sein können. Es fragte keiner mehr, warum er denn nicht spreche und mit anderen Kindern spiele. Noch erfreulicher war, dass man aufhörte, ihm mit übertriebenem Mitleid zu begegnen, mit kopfschüttelndem Bedauern und Ausrufen wie »Oh gung bichara!« Oh, der arme kleine Stumme.
Ich begrüßte Kabir, und er stellte mich mehreren Männern vor, unter anderem einem pensionierten Lehrer, einem Ingenieur, einem ehemaligen Architekten und einem ehemaligen Arzt, der jetzt in Hayward Hotdogs verkaufte. Sie alle kannten meinen Vater noch aus Kabul und äußerten sich sehr respektvoll über ihn. Er hatte auf die eine oder andere Weise mit jedem von ihnen zu tun gehabt. Sie meinten, dass ich mich glücklich schätzen dürfe, einen so großen Mann zum Vater gehabt zu haben.
Wir unterhielten uns über Karzai, über die schwierige und undankbare Aufgabe, die er übernommen hatte. Auch von der neu gebildeten Loya Jirga war die Rede und von der bevorstehenden Rückkehr des Königs nach 28-jährigem Exil. Ich erinnerte mich an die Nacht im Jahre 1973, als Zahir Shah von seinem Cousin vom Thron gestürzt worden war; ich erinnerte mich an das Gewehrfeuer und den silbern leuchtenden Himmel — Ali hatte mich und Hassan in die Arme genommen und uns mit den Worten beruhigt, dass da draußen nur auf Enten geschossen werde.
Irgendjemand erzählte dann einen Hodscha-Nasreddin-Witz, und alle lachten. »Übrigens«, sagte Kabir, »dein Vater war auch ein sehr komischer Mann.«
»Ja, das war er«, bestätigte ich schmunzelnd und dachte daran, wie sich Baba kurz nach unserer Ankunft in Amerika abfällig über »US-Fliegen« ausgelassen hatte. Mit einer Fliegenklatsche in der Hand hatte er am Tisch gesessen und den hektischen, wirren Flugmanövern der kleinen Insekten zugesehen. »In diesem Land haben nicht einmal die Fliegen Zeit«, beklagte er sich, worüber ich herzhaft hatte lachen müssen. Noch bei der Erinnerung schmunzelte ich.
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