»Lebt Hassan jetzt immer noch in dem Haus?«, fragte ich.
Rahim Khan hob die Teetasse an seine trockenen Lippen und nahm einen Schluck. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Weste und reichte ihn mir. »Für dich.«
Ich riss den verschlossenen Umschlag auf. Darin fand ich ein Polaroidfoto und einen gefalteten Brief. Ich starrte das Foto eine geschlagene Minute lang an.
Ein Mann mit einem weißen Turban und einem grün gestreiften c hapan stand mit einem kleinen Jungen vor einem schmiedeeisernen Tor. Von der linken Seite fiel schräg das Sonnenlicht ins Bild und warf einen Schatten auf die eine Hälfte seines runden Gesichts. Er lächelte blinzelnd in die Kamera und entblößte dabei einige fehlende Vorderzähne. Selbst auf dem verwackelten Pola roidfoto strahlte der Mann in dem chapan Selbstsicherheit und Unbefangenheit aus. Es lag wohl an der Art und Weise, wie er mit leicht gespreizten Beinen dastand, die Arme locker auf der Brust gekreuzt, den Kopf ein wenig Richtung Sonne geneigt. Aber hauptsächlich lag es daran, wie er lächelte. Wenn man sich dieses Foto ansah, konnte man zu dem Schluss kommen, dies sei ein Mann, der glaubte, das Schicksal habe es gut mit ihm gemeint. Rahim Khan hatte Recht, ich hätte ihn sofort erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. Der kleine Junge war barfuß, hatte einen Arm um den Oberschenkel des Mannes geschlungen, und sein rasierter Kopf ruhte an der Hüfte seines Vaters. Auch er lächelte blinzelnd in die Kamera.
Ich faltete den Brief auseinander. Er war auf Farsi geschrieben. Kein einziger Punkt war ausgelassen worden, kein Strich vergessen, keine Buchstaben ineinander gerutscht — die Handschrift hatte etwas Kindliches in ihrer Ordentlichkeit. Ich begann zu lesen:
Im Namen Allahs des Allmächtigen und des Barmherzigen sende ich dir, Amir Aga, meine respektvollsten Grüße.
Farzana jan, Suhrab und ich beten darum, dass dich unser Brief bei guter Gesundheit und im Schein der Gnade Allahs erreicht. Bitte richte Rahim Khan Sahib meine tiefe Dankbarkeit aus, dass er ihn dir überbringt. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages einen deiner Briefe in meinen Händen halten werde und etwas über dein Leben in Amerika erfahren kann. Vielleicht wird sogar eine Fotografie von dir unsere Augen erfreuen. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!
Amir Aga, leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst — in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten —, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.
Vor ein paar Tagen habe ich Farzana jan auf den Basar begleitet, um ein paar Kartoffeln und etwas naan zu kaufen. Sie fragte den Händler, wie viel die Kartoffeln kosteten, aber er hörte sie nicht, ich glaube, er war ein wenig taub. Also stellte sie ihre Frage lauter, und plötzlich kam ein junger Talib auf sie zugerannt und schlug ihr mit einem Holzstock auf den Oberschenkel. Er schlug so fest zu, dass sie hinfiel. Er schrie sie an und fluchte und rief, dass es das Ministerium für Laster und Tugend nicht erlaube, dass eine Frau die Stimme erhebt. Sie hatte tagelang einen großen violetten Fleck auf dem Oberschenkel, aber was blieb mir anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie meine Frau geschlagen wurde? Hätte ich gekämpft, hätte mir dieser Hund sicherlich mit Freude eine Kugel in den Leib gejagt! Und was wäre dann aus meinem Suhrab geworden? Die Straßen sind schon voll genug mit hungrigen Waisenkindern, und ich danke Allah jeden Tag, dass ich am Leben bin, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Tod habe, sondern weil so meine Frau einen Mann hat und mein Sohn kein Waisenjunge ist.
Wenn du Suhrab doch nur sehen könntest! Er ist ein guter Junge. Rahim Khan Sahib und ich haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht, damit er nicht so unwissend aufwächst wie sein Vater. Und wie er mit der Schleuder umgehen kann! Manchmal nehme ich ihn mit nach Kabul und kaufe ihm Süßigkeiten. Es gibt immer noch einen Affen-Mann in Shar-e-Nau, und wenn wir zu ihm gehen, bezahle ich ihn dafür, dass er seinen Affen für Suhrab tanzen lässt.
Du solltest sehen, wie er lacht! Wir beide marschieren oft zu dem Friedhof auf dem Hügel. Weißt du noch, wie wir unter dem Granatapfelbaum dort oben gesessen und im Shahname gelesen haben? Die Dürren haben den Hügel ausgetrocknet, und der Baum hat schon seit Jahren keine Früchte mehr getragen, aber Suhrab und ich sitzen immer noch in seinem Schatten, und ich lese ihm aus dem Shahname vor. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass sein Lieblingsteil der ist, in dem sein Namensvetter vorkommt, der, in dem es um Rostem und Suhrab geht. Es wird nicht mehr lange dauern, und er kann selbst in dem Buch lesen. Ich bin ein sehr stolzer und glücklicher Vater.
Amir Aga,
Rahim Khan Sahib ist sehr krank. Er hustet den ganzen Tag, und wenn er sich den Mund abwischt, ist Blut an seinem Ärmel. Er hat stark abgenommen, und ich wünschte, er würde etwas von der shorwa mit Reis essen, die Farzana jan für ihn kocht. Aber er nimmt immer nur einen oder zwei Bissen zu sich, und selbst das wohl nur aus Höflichkeit ihr gegenüber. Ich mache mir so große Sorgen um diesen mir so teuren Menschen, ich bete jeden Tag für ihn. Er reist in ein paar Tagen nach Pakistan, umdort einige Ärzte aufzusuchen, und ich hoffe, dass er mit guten Nachrichten zurückkehren wird. Aber in meinem Herzen fürchte ich um ihn. Farzana jan und ich haben dem kleinen Suhrab gesagt, dass es Rahim Khan Sahib bald wieder gut gehen wird. Was können wir anderes tun? Er ist doch erst zehn Jahre alt und liebt Rahim Khan Sahib über alles. Sie stehen einander sehr nah. Rahim Khan Sahib hat ihn immer auf den Basar mitgenommen und ihm Ballons und Kekse gekauft, aber dazu ist er nun zu schwach. Ich träume in letzter Zeit sehr viel, Amir Aga. Manchmal sind es Albträume, in denen erhängte Leichen in Fußballstadien mit blutrotem Gras verfaulen. Dann erwache ich atemlos und in Schweiß gebadet. Aber meistens sind es schöne Träume, und dafür danke ich Allah. Ich träume davon, dass es Rahim Khan Sahib wieder gut geht. Ich träume davon, dass mein Sohn zu einem guten Menschen heranwächst, einem freien Menschen und einem wichtigen Menschen. Ich träume davon, dass wieder lawla-Blumen in den Straßen Kabuls blühen und rubab-Musik in den Samowar-Häusern gespielt wird. Und dass Drachen am Himmel fliegen. Und ich träume davon, dass du eines Tages wieder nach Kabul zurück kehrst, um das Land unserer Kindheit zu besuchen. Wenn du das tust, wirst du hier einen alten treuen Freund vorfinden, der auf dich wartet.
Möge Allah immer mit dir sein,
Hassan
Ich las den Brief zweimal. Dann faltete ich ihn und betrachtete erneut für eine ganze Weile das Foto, ehe ich schließlich beides einsteckte. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.
»Dieser Brief wurde vor sechs Monaten geschrieben, wenige Tage bevor ich nach Peshawar aufgebrochen bin«, erwiderte Rahim Khan. »Das Foto habe ich am Tag vor meiner Abreise aufgenommen. Einen Monat nach meiner Ankunft in Peshawar erhielt ich einen Telefonanruf von meinem Nachbarn in Kabul. Er erzählte mir die ganze Geschichte: Kurz nach meiner Abreise hatte sich das Gerücht verbreitet, dass eine Hazara-Familie allein in dem großen Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel lebt — oder so haben es die Taliban jedenfalls später behauptet. Zwei Beamte der Taliban kamen, um die Angelegenheit zu untersuchen und Hassan zu befragen. Sie beschuldigten ihn der Lüge, als er ihnen mitteilte, dass er bei mir wohnte. Und das, obwohl viele der Nachbarn — einschließlich des Nachbarn, der mich anrief — seine Geschichte bestätigten. Die beiden Taliban behaupteten, dass er ein Lügner und ein Dieb sei wie alle Hazara, und befahlen ihm, bis zum Sonnenuntergang mit seiner Fami lie das Haus zu verlassen. Hassan protestierte. Aber mein Nachbar sagte, die Taliban hätten das große Haus angesehen wie — wie hat er sich noch einmal ausgedrückt? — ja, wie ›Wölfe, die eine Herde von Schafen ansehen‹. Sie erklärten Hassan, dass sie dort einziehen würden, angeblich, um bis zu meiner Rückkehr darauf aufzupassen. Hassan protestierte wieder. Also haben sie ihn auf die Straße hinausgebracht…«
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