»Nein«, hauchte ich.
»…und ihm befohlen, sich hinzuknien…«
»Nein. Oh Gott, nein.«
»…und haben ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen.«
»Nein.«
»…Farzana kam schreiend aus dem Haus gelaufen und ist auf sie losgegangen…«
»Nein.«
»…da haben sie auch sie erschossen. In Notwehr, wie sie nachher behauptet haben…«
Aber ich brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Nein, nein, nein«, sagte ich unaufhörlich vor mich hin.
Meine Gedanken kehrten immer wieder in jenes Krankenhauszimmer zurück, in dem Hassan nach seiner Hasenschartenoperation gelegen hatte. Baba, Rahim Khan, Ali und ich hatten uns um Hassans Bett versammelt und zugesehen, wie er seine neue Oberlippe in dem Handspiegel betrachtet hatte. Jetzt waren alle, die in jenem Zimmer gewesen waren, entweder tot oder todkrank. Außer mir.
Dann wieder sah ich andere Bilder vor mir: ein Mann in einer Weste mit Fischgrätmuster, der den Lauf einer Kalaschnikow an Hassans Hinterkopf drückt. Die Explosion hallt durch die Straße, in der das Haus meines Vaters steht. Hassan sinkt auf den Asphalt, und sein Leben, das so erfüllt war von unerwiderter Anhänglichkeit, entweicht wie die vom Wind davongetragenen Drachen, hinter denen er einst herjagte.
»Die Taliban zogen in das Haus ein«, sagte Rahim Khan. »Sie gaben vor, einen Eindringling zur Räumung gezwungen zu haben. Die Ermordung von Hassan und Farzana wurde als ein Fall von Selbstverteidigung abgetan. Niemand verlor ein Wort darüber. Ich denke, der Grund war hauptsächlich die Furcht vor den Taliban. Aber es wollte auch niemand irgendetwas für zwei Hazara-Dienstboten riskieren.«
»Was haben sie mit Suhrab gemacht?«, fragte ich. Ich fühlte mich erschöpft, ausgelaugt. Rahim Khan wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der lange Zeit dauerte. Als er schließlich aufblickte, war sein Gesicht gerötet, und die Augen waren blutunterlaufen. »Ich habe gehört, dass er sich in einem Waisenhaus irgendwo in Karteh-Seh befindet. Amir jan…«, er hustete wieder. Als sich der Husten legte, sah er älter aus als noch vor wenigen Augenblicken, ganz so, als hätte ihn der Hustenanfall altern lassen. »Amir jan, ich habe dich hierher gerufen, weil ich dich noch einmal sehen wollte, bevor ich sterbe, aber das ist nicht alles.«
Ich sagte nichts. Ich glaubte schon zu wissen, was nun kommen würde.
»Ich möchte, dass du nach Kabul fährst. Ich möchte, dass du Suhrab hierher bringst«, sagte er.
Ich bemühte mich, die rechten Worte zu finden. Ich hatte ja kaum Zeit gehabt, mich mit der Tatsache abzufinden, dass Hassan tot war.
»Bitte hör mich an. Ich kenne ein amerikanisches Ehepaar namens Thomas und Betty Caldwell hier in Peshawar. Sie sind Christen und betreiben eine kleine Wohl tätigkeitsorganisation, die sich durch Privatspenden finanziert. Sie geben afghanischen Kindern, die ihre Eltern verloren haben, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich habe das Haus gesehen. Es ist sauber und sicher, man kümmert sich gut um die Kinder, und die Caldwells sind freundliche Leute. Sie haben mir bereits versichert, dass Suhrab bei ihnen willkommen wäre und…«
»Rahim Khan, das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Kinderseelen zerbrechen leicht, Amir jan , sie sind zerbrechlich wie Glas. Kabul ist schon voll von solchen zerbrochenen Seelen, und ich möchte nicht, dass Suhrab das gleiche Schicksal widerfährt.«
»Rahim Khan, ich möchte nicht nach Kabul fahren. Ich kann das nicht!«, sagte ich.
»Suhrab ist ein begabter kleiner Junge. Wir können ihm hier ein neues Leben und neue Hoffnung bei Menschen bieten, die ihm ihre Liebe schenken würden. Thomas Aga ist ein guter Mann und Betty khanum so gütig; du solltest sehen, wie sie mit diesen Waisenkindern um geht.«
»Warum ich? Warum kannst du nicht jemanden dafür bezahlen, dorthin zu fahren. Ich werde den finanziellen Teil übernehmen, wenn es eine Geldfrage ist.«
»Es geht hier nicht um Geld, Amir!«, brüllte Rahim Khan. »Ich bin ein todgeweihter Mann und werde mich nicht beleidigen lassen! Um Geld ist es bei mir nie gegangen, das weißt du. Und warum du es tun sollst, fragst du? Ich glaube, die Antwort darauf kennen wir beide doch sehr gut, nicht wahr?«
Ich wollte diese Bemerkung nicht verstehen, aber ich verstand sie nur zu gut. »Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Kabul ist ein gefährlicher Ort, das weißt du, und du willst, dass ich alles riskiere für…« Ich verstummte.
»Weißt du«, sagte Rahim Khan, »als du einmal nicht da warst, haben dein Vater und ich uns über dich unterhalten. Als du noch ein Kind warst, hat er sich ja ständig Sorgen um dich gemacht. Ich weiß noch, wie er zu mir sagte: ›Rahim, ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für gar nichts eintritt.‹ Ich frage mich, ob das aus dir geworden ist.«
Ich blickte zu Boden.
»Ich bitte dich lediglich darum, einem alten Mann einen letzten Wunsch zu erfüllen«, erklärte er ernst.
Er hatte auf die Wirkung dieser Bemerkung spekuliert. Hatte damit seinen Trumpf ausgespielt. So dachte ich zumindest. Seine Worte hingen zwischen uns in der Luft, aber wenigstens hatte er gewusst, was er sagen sollte. Ich suchte immer noch nach den richtigen Worten, dabei war ich von uns beiden der Schriftsteller. Schließlich entschied ich mich für Folgendes: »Vielleicht hat Baba ja Recht gehabt.«
»Tut mir Leid, dass du so von dir denkst.«
Ich vermochte nicht ihn anzusehen. »Tust du es denn nicht?«
»Wenn es so wäre, hätte ich dich wohl kaum gebeten, hierher zu kommen.«
Ich spielte mit meinem Ehering. »Du hast immer schon zu große Stücke auf mich gehalten, Rahim Khan.«
»Und du warst immer viel zu streng mit dir selbst.« Er zögerte. »Aber da ist noch etwas. Etwas, das du nicht weißt.«
»Bitte, Rahim Khan –«
»Sanaubar war nicht Alis erste Frau.«
Nun blickte ich auf.
»Er war schon einmal verheiratet gewesen, mit einer Hazara-Frau aus der Jaghori-Gegend. Das war lange vor deiner Geburt. Sie waren drei Jahre verheiratet.«
»Was hat das denn mit dieser Sache zu tun?«
»Sie hat ihn nach drei kinderlosen Jahren verlassen und einen Mann in Khost geheiratet. Dem hat sie drei Töchter geschenkt. Das versuche ich dir zu sagen.«
Ich begann zu begreifen, wohin das führte. Aber ich wollte den Rest gar nicht hören. Ich hatte ein gutes Leben in Kalifornien, ein hübsches viktorianisches Haus mit einem Spitzdach, eine gute Ehe, eine vielversprechende Schriftstellerkarriere, Schwiegereltern, die mich liebten.
Ohne mich.
»Ali war steril«, sagte Rahim Khan.
»Nein, das war er nicht. Sanaubar und er hatten Hassan, oder etwa nicht? Sie hatten Hassan zusammen und…«
»Nein, das hatten sie nicht«, sagte Rahim Khan.
»Aber natürlich!«
»Nein, Amir, das hatten sie nicht.«
»Aber wer ist denn dann…?«
»Ich glaube, du weißt, wer.«
Ich kam mir wie ein Mann vor, der einen steilen Abhang hinunterrutscht und erfolglos versucht, sich an Büschen und dornigem Gestrüpp festzuklammern. Das Zimmer hob und senkte sich, schwankte von einer Seite zur anderen. »Hat Hassan es gewusst?«, sprach ich durch Lippen, die sich nicht wie meine eigenen anfühlten. Rahim Khan schloss die Augen. Schüttelte den Kopf.
»Ihr Mistkerle«, murmelte ich. Stand auf. »Ihr gottverdammten Mistkerle!«, schrie ich. »Ihr seid nichts weiter als ein Haufen gottverdammter Scheißlügner! Gottverdammte Hurensöhne.«
»Bitte setz dich wieder«, sagte Rahim Khan.
»Wie konntet ihr das nur vor mir geheim halten? Und vor allem vor ihm?«, brüllte ich.
»Bitte denk doch einmal nach, Amir jan. Es war eine peinliche Situation. Die Leute hätten getuschelt. Alles, was ein Mann damals besaß, war seine Ehre, sein Name, und wenn die Leute geredet hätten… Wir konnten niemandem davon erzählen, das musst du doch einsehen.« Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich ignorierte sie. Ging auf die Tür zu.
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