»Ja, und das wird auch immer so sein«, antwortete ich in einem Ton, der nach Verteidigung klang, was mich selbst überraschte.
»Nach zwanzig Jahren in Amerika?« Farid riss energisch das Lenkrad herum, um einem Schlagloch von der Größe und Tiefe eines Waschzubers auszuweichen.
Ich nickte. »Ich bin in Afghanistan aufgewachsen.«
Farid kicherte wieder.
»Was soll das?«
»Nichts für ungut«, murmelte er.
»Antworte. Was soll das Gekichere?«
Im Rückspiegel sah ich seine Augen aufblitzen. »Willst du’s wirklich wissen?«, sagte er mit spöttischem Unterton. »Ich stelle mir vor: Wahrscheinlich wohnst du in einem großen ein- oder zweistöckigen Haus mit einem schönen Garten, den dein Gärtner mit Blumen und Obstbäumen bepflanzt hat. Das Ganze hübsch eingezäunt, versteht sich. Schon dein Vater hat einen amerikanischen Schlitten gefahren. Ihr hattet Dienstboten, wahrscheinlich Hazara, die das Haus geschmückt haben, wenn deine Eltern wieder mal eine ihrer schicken mehmanis feiern wollten, mit Freunden, die mit ihren Reisen durch Europa und Amerika geprahlt haben. Ich setze die Augen meines Erstgeborenen darauf, dass du hier und jetzt zum ersten Mal einen pakol trägst.« grinsend zeigte er mir zwei Reihen frühzeitig faulender Zähne. »Stimmt’s?«
»Warum sagst du das?«
»Du hast danach gefragt.« Er spuckte aus und deutete auf einen alten in Lumpen gekleideten Mann, der mit einem großen Sack voller Gras über einen Trampelpfad schlurfte. »Das ist das wahre Afghanistan, Aga Sahib. Das Afghanistan, wie ich es kenne. Du? Du bist hier immer nur Tourist gewesen. Du wusstest es nur nicht.«
Rahim Khan hatte mich gewarnt: Von denen, die im Land geblieben waren und in den Kriegen gekämpft hatten, war für mich kein herzliches Willkommen zu erwarten. »Tut mir Leid, das mit deinem Vater«, sagte ich. »Auch das mit deinen Töchtern und mit deiner Hand.«
»Dein Beileid bedeutet mir nichts«, sagte er kopfschüttelnd. »Warum bist du hergekommen? Um Babas Ländereien zu verkaufen? Das Geld einzusacken und schnell zur Mutter nach Amerika zurückzukehren?«
»Meine Mutter starb bei meiner Geburt«, sagte ich.
Er seufzte und steckte sich eine weitere Zigarette an. Ohne etwas zu sagen.
»Fahr rechts ran.«
»Was?«
»Fahr rechts ran, verdammt noch mal!«, wiederholte ich. »Mir wird schlecht.« Kaum waren die Räder zum Stehen gekommen, stürzte ich nach draußen.
Am späten Nachmittag hatten wir jenseits der kahlen, sonnenverbrannten Berghänge eine sehr viel grünere, kultiviertere Landschaft erreicht. Die Passstraße fiel hinter Landi Kotal, das Gebiet der Shinwari kreuzend, in Richtung Landi Khana ab. Bei Torkham waren wir nach Afghanistan eingereist. Kiefern säumten die Straße; es waren weniger als in meiner Erinnerung, und viele schienen verdorrt zu sein. Trotzdem war es gut, nach der anstrengenden Fahrt über den Khyber-Pass endlich wieder Bäume zu sehen. Wir näherten uns Jalalabad, wo ein Bruder Farids wohnte. Bei ihm würden wir die Nacht verbringen können.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir Jalalabad erreichten, die Hauptstadt von Nangarhar, berühmt für ihr Obst und das milde Klima. Wir passierten die aus festem Stein gebauten Häuser in der Stadtmitte. Anders als in meiner Erinnerung gab es hier nur noch wenige Palmen zu sehen, und von etlichen Gebäuden waren nur frei stehende Mauern und Berge von Schutt übrig geblieben.
Farid bog in eine enge, ungepflasterte Straße und park te den Landcruiser neben einem trockenen Rinnstein. Ich stieg aus, reckte mich und atmete tief durch. Früher lag hier stets ein süßer Duft in der Luft, den der Wind von den bewässerten Zuckerrohrfeldern im Umkreis der Stadt herbeiwehte. Ich schloss die Augen und suchte nach diesem Duft, fand ihn aber nicht.
»Gehen wir«, sagte Farid ungeduldig. Wir setzten uns in Bewegung, kamen an entlaubten Pappeln und einer Reihe eingefallener Lehmmauern vorbei. Farid führte mich zu einem flachen baufälligen Haus und klopfte an die Brettertür.
Eine junge Frau machte auf. Sie trug einen weißen Schal um den Kopf gewickelt und hatte Augen so grün wie das Meer. Ihr Blick fiel zuerst auf mich. Sie erschrak. Doch als sie Farid sah, leuchteten ihre Augen auf. »Salaam alaykum, Kaka Farid!«
»Salaam, Maryam jan«, grüßte Farid und schenkte ihr, was er mir den ganzen Tag vorenthalten hatte, ein freundliches Lächeln. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Die junge Frau trat zur Seite und beäugte mich argwöhnisch, als ich Farid ins Innere des kleinen Hauses folgte.
Die kahlen Wände ringsum waren, wie auch die tief hängende Decke, mit Lehm verputzt. Für Licht sorgten einzig und allein zwei Laternen, die in einer Ecke hingen. Wir zogen unsere Schuhe aus, um die Strohmatten am Boden zu schonen. Vor einer Wand hockten drei Jungen im Schneidersitz auf einer Matratze, über der eine verschlissene Wolldecke lag. Ein großer bärtiger Mann mit breiten Schultern stand auf, um uns zu begrüßen. Farid umarmte ihn, und die beiden tauschten Küsse auf die Wangen. Er stellte ihn mir als seinen älteren Bruder Wahid vor. »Er ist aus Amerika«, sagte er, an Wahid gewandt, und deutete mit dem Daumen auf mich. Dann begrüßte er die Jungen.
Wahid bat mich, Platz zu nehmen, und wir setzten uns an die Wand gegenüber den Jungen, die über Farid hergefallen waren und ihm auf die Schultern kletterten. Un geachtet meiner Proteste, verlangte Wahid von einem von ihnen, eine Decke für mich zu holen, damit ich es auf dem Boden bequemer hätte. Maryam bekam den Auftrag, Tee zu servieren. Er erkundigte sich nach den Straßenverhältnissen und unserer Fahrt von Peshawar über den Khyber-Pass.
»Ich hoffe, Ihnen sind keine dozds in die Quere gekommen«, sagte er. Der Khyber war bekannt als Rück zugsgebiet für Banditen, die es auf Reisende abgesehen hatten. Ehe ich antworten konnte, zwinkerte er mit dem Auge und sagte laut genug, um im ganzen Raum gehört zu werden: »Aber ein dozd würde natürlich keine Zeit verschwenden auf ein so hässliches Auto wie das meines Bruders.«
Farid hatte den kleinsten der drei Brüder zu Boden gerungen und kitzelte ihn mit der gesunden Hand. Der Junge kicherte und trat mit den Beinen um sich. »Immerhin habe ich ein Auto«, bemerkte Farid. »Und wie geht es deinem Esel dieser Tage?«
»Mit dem fahr ich besser als du mit deiner Klapperkiste.«
»Khar khara mishnassah«, konterte Farid. Um einen Esel zu verstehen, muss man selbst ein Esel sein. Alle lachten, und ich stimmte mit ein. Nebenan waren Frauenstimmen zu hören. Ich konnte von meinem Platz aus den halben Raum jenseits des Durchgangs einsehen. Maryam schüttete Tee in eine Kanne und unterhielt sich mit einer älteren Frau in brauner hijab. Es war wahrscheinlich ihre Mutter.
»Was machen Sie beruflich, Amir Aga?«, fragte Wahid.
»Ich bin Schriftsteller«, antwortete ich und glaubte, ein Kichern von Farid gehört zu haben.
»Schriftsteller?« Wahid zeigte sich beeindruckt. »Schreiben Sie über Afghanistan?«
»Ja, auch. Aber nicht nur.« Mein letzter Roman, A Season for Ashes, handelte von einem Universitätsprofessor, der sich, nachdem er seine Frau mit einem seiner Studenten im Bett erwischt hatte, einer Clique von Bohemiens anschließt. Es war kein schlechtes Buch. Manche Kritiker hatten es für »gut« befunden, einer bezeichnete es sogar als »fesselnd«. Trotzdem geriet ich plötzlich in Verlegenheit und hoffte, dass sich Wahid nicht weiter danach erkundigte.
»Vielleicht sollten Sie wieder mal über Afghanistan schreiben«, sagte Wahid. »Erzählen Sie dem Rest der Welt, wie die Taliban unser Land zugrunde richten.«
»Nun, dafür… dafür bin ich wohl nicht der Richtige.«
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