»Julián?« fragte eine zitternde Stimme.
Ich griff nach der Klinke, und während ich langsam die Tür öffnete, wußte ich nicht mehr, wer mich auf der andern Seite erwartete. Bea sah mich aus einer Ecke heraus an, in eine Decke gehüllt. Ich stürzte zu ihr und umarmte sie wortlos. An meinen Wangen spürte ich ihr nasses Gesicht.
»Ich wußte nicht, wohin«, flüsterte sie.
»Ich hab dich einige Male zu Hause angerufen, aber da war niemand. Ich hatte Angst…«
Mit den Fäusten trocknete sie sich die Tränen und schaute mich an. Ich nickte und brauchte nichts weiter zu sagen.
»Warum hast du mich Julián genannt?«
Sie warf einen Blick auf die halboffene Tür.
»Er ist hier. In diesem Haus. Er kommt und geht. Er hat mich neulich ertappt, als ich ins Haus hineinwollte. Ohne daß ich ihm etwas sagte, wußte er, wer ich war. Er wußte, was geschehen war, und hat mich in diesem Zimmer untergebracht und mir eine Decke, Wasser und zu essen gebracht. Er hat gesagt, ich soll warten, alles wird gut, du würdest mich holen kommen. In der Nacht haben wir uns stundenlang unterhalten. Er hat mir von Penélope, von Nuria erzählt… Vor allem hat er von dir erzählt, von uns beiden. Er hat gesagt, er muß dich lehren, ihn zu vergessen…«
»Wo ist er jetzt?«
»Unten. In der Bibliothek. Er sagte, er erwartet jemand, ich soll mich nicht von der Stelle rühren.«
»Wen erwartet er?«
»Ich weiß es nicht. Er sagte, es ist jemand, der mit dir kommt, du würdest ihn herbringen…«
Als ich in den Korridor hinausschaute, waren unten an der Treppe schon die Schritte zu hören. Ich erkannte den fahlen Schatten auf den Mauern, den schwarzen Mantel, den kapuzengleich aufgestülpten Hut, den Revolver in der Hand, blitzend wie eine Sense. Fumero. Immer hatte er mich an jemanden oder etwas erinnert, aber bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht begriffen, woran.
Ich machte mit den Fingern die Kerzen aus und gab Bea ein Zeichen, ganz still zu sein. Sie ergriff meine Hand und schaute mich fragend an. Unter uns waren Fumeros langsame Schritte zu hören. Ich führte sie wieder ins Zimmer hinein und bedeutete ihr da zu bleiben, hinter der Tür verborgen.
»Geh auf keinen Fall hier raus, was auch geschehen mag«, flüsterte ich.
»Verlaß mich jetzt nicht, Daniel, bitte.«
»Ich muß Carax warnen.«
Sie schaute mich flehend an, aber ich ging wieder in den Korridor hinaus. Ich glitt zur Schwelle der Haupttreppe. Keine Spur von Fumeros Schatten oder seinen Schritten. Er stand irgendwo reglos im Dunkeln. Geduldig. Ich zog mich wieder in den Korridor zurück und schritt die ganze Galerie der Zimmer ab bis zur Vorderfassade des Hauses. Durch ein vereistes Fenster drangen ein paar bläuliche Lichtstrahlen herein, trüb wie gestautes Wasser. Ich trat an die Scheibe und sah einen schwarzen Wagen vor dem Gittertor stehen. Es war das Polizeiauto. Zigarettenglut in der Dunkelheit verriet Palacios hinter dem Steuer. Langsam ging ich zur Treppe zurück und stieg, die Füße unendlich behutsam aufsetzend, Stufe um Stufe hinunter. Auf halbem Weg blieb ich stehen und spähte in die Dunkelheit, in die das Erdgeschoß gehüllt war.
Fumero hatte nach dem Eintreten die Tür offengelassen. Der Wind hatte die Kerzen ausgeblasen und trug Schneegestöber herein. Im Gewölbe tanzte das gefrorene Laub und schwebte in dem schwachen Licht, das die Ruinen des Hauses andeutete. Die Wand entlangtastend, stieg ich vier weitere Stufen hinunter. Schwach erkannte ich einen Schimmer der Glastür zur Bibliothek. Fumero sah ich noch immer nicht. Ich fragte mich, ob er wohl in den Keller oder in die Krypta hinuntergegangen war. Der hereindringende Schneestaub verwischte seine Spuren. Ich schlich mich an den Fuß der Treppe und warf einen Blick in den Korridor, der zum Eingang führte. Der eisige Wind peitschte mir ins Gesicht. Im Dunkeln erkannte man schwach die Klaue des Engels im Brunnen. Ich schaute in die andere Richtung. Vom Fuß der Treppe bis zum Eingang zur Bibliothek waren es etwa zehn Meter. Der Vorraum lag im Dunkeln. Mir war klar, daß Fumero wenige Meter von mir entfernt stehen und mich beobachten konnte, ohne daß ich ihn sah. Ich holte tief Luft und tastete mich mit angehaltenem Atem bis zur Bibliothek vor.
Der große ovale Raum lag in schwachem, dunstigem Licht, das der vor den Fenstern fallende Schnee mit Schattenpunkten sprenkelte. Ich spähte die nackten Wände nach Fumero ab, der möglicherweise beim Eingang stand. Knapp zwei Meter rechts von mir ragte ein Gegenstand aus der Wand. Ein Messer, vielleicht ein zweischneidiger Dolch, der ein Rechteck aus Karton oder Papier aufspießte. Ich trat hinzu und erkannte das an die Wand gedolchte Bild — ein zweiter Abzug des halb verbrannten Fotos, das ein Fremder auf dem Ladentisch der Buchhandlung liegengelassen hatte. Darauf lächelten Julián und Penélope als Teenager einem Leben zu, das schon verwirkt war, ohne daß sie es wußten. Die Klinge steckte in Juliáns Brust. Da ging mir auf, daß damals nicht Laín Coubert oder Julián Carax das Foto als Einladung zurückgelassen hatte. Es war Fumero gewesen und das Bild ein vergifteter Köder. Ich griff danach, um es vom Messer zu reißen, als mich die eiskalte Berührung von Fumeros Revolver im Nacken erstarren ließ.
»Ein Bild taugt mehr als tausend Worte, Daniel. Wäre dein Vater nicht so ein Scheißbuchhändler, hätte er dir das längst beigebracht.«
Langsam drehte ich mich um und sah mich dem Revolverlauf gegenüber. Er stank nach frischem Pulverdampf. Fumeros leichenblasses Gesicht grinste in einer verkrampften Grimasse.
»Wo ist Carax?«
»Weit weg. Er wußte, daß Sie ihn holen würden, und ist gegangen.«
Fumero schaute mich an: »Ich blas dir den Kopf weg, Kleiner.«
»Das wird Ihnen nicht viel nützen. Carax ist nicht hier.«
»Mach den Mund auf«, befahl Fumero.
»Wozu?«
»Mach den Mund auf, oder ich schieß ihn dir auf.« Ich öffnete die Lippen, und er schob mir den Revolver hinein. Ich spürte, wie mir Übelkeit den Hals heraufkroch. Fumeros Daumen spannte den Schlagbolzen.
»Und jetzt denk drüber nach, du Stück Scheiße, ob du einen Grund zum Weiterleben hast. Na?« Ich nickte langsam.
»Dann sag mir, wo Carax ist.« Ich versuchte zu stottern. Gemächlich zog er den Revolver zurück.
»Wo ist er?«
»Unten. In der Krypta.«
»Du führst mich. Du sollst dabeisein, wenn ich diesem Dreckskerl erzähle, wie Nuria Monfort geschrien hat, als ich ihr das Messer in die…«
Die Gestalt erschien aus dem Nichts. Über Fumeros Schulter spähend, glaubte ich eine Silhouette ohne Gesicht, aber mit glühendem Blick in absoluter Stille auf uns zugleiten zu sehen, als berührte sie kaum den Boden. Fumero las in meinen tränennassen Augen den Reflex, und wie in Zeitlupe geriet sein Gesicht aus den Fugen.Als er herumschnellte und in die ihn umhüllende Dunkelheit schoß, hatten zwei lederne Pranken bereits seinen Hals umklammert. Carax stieß mich weg und drückte Fumero an die Wand. Dessen Hand krampfte sich um den Revolver und versuchte ihn Carax unters Kinn zu setzen. Bevor er abdrücken konnte, packte ihn Carax am Handgelenk und hämmerte es mit aller Kraft ein ums andere Mal an die Wand, doch Fumero ließ die Waffe nicht los. Ein zweiter Schuß explodierte in der Dunkelheit, zerschellte an der Wand und riß ein Loch in die Holztäfelung. Funken und glühende Splitter besprengten Fumeros Gesicht. Der Gestank nach verbranntem Fleisch erfüllte den Raum.Mit einem Ruck versuchte sich Fumero aus den Pranken zu befreien, die seinen Hals wie in einem Schraubstock hielten und seine Hand mit dem Revolver an die Wand drückten. Carax lockerte den Griff nicht. Fumero brüllte vor Wut und drehte den Kopf, bis er Carax in die Faust beißen konnte. Eine tierische Wut hatte ihn erfaßt. Ich hörte, wie seine fletschenden Zähne die tote Haut zerrissen, und sah Blut aus seinen Lippen rinnen. Da griff Carax, die Schmerzen ignorierend oder vielleicht gar nicht imstande, welche zu empfinden, nach dem Dolch, riß ihn aus der Wand und spießte mit einem einzigen Stoß das rechte Handgelenk Fumeros an die Wand. Der gab einen Schmerzensschrei von sich. Seine Hand öffnete sich spastisch, der Revolver fiel ihm zu Füßen. Mit einem Tritt schleuderte ihn Carax in die Dunkelheit.Der Schrecken dieser Szene war in wenigen Sekunden an meinen Augen vorbeigezogen. Ich war wie gelähmt, unfähig, zu handeln oder auch nur einen Gedanken zu fassen. Carax wandte sich mir zu und heftete seinen Blick auf mich. Als ich ihn anschaute, konnte ich seine von den Flammen ausgelöschten Gesichtszüge rekonstruieren, die ich mir so oft vorgestellt hatte, wenn ich Bilder sah oder alte Geschichten hörte.
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