»Ich bin also eindeutig am richtigen Ort«, sagte der Chef zu sich selbst. »Aber vielleicht ein paar Minuten zu spät?«
Da beschloss er, dem Laster hinterherzufahren. Den einzuholen, sollte eigentlich nicht unmöglich sein, er hatte ja nur drei, vier Minuten Vorsprung auf einem verschlungenen, unbefestigten Weg.
Der Chef startete das Auto, und der BMW brachte ihn rasch zurück auf den Hauptweg. Dort bog er am Briefkasten links ab, genau wie der Bus vorhin. Und dann trat er aufs Gas und verschwand in einer Staubwolke. Dass sich von der anderen Seite gerade ein blauer Volvo näherte, kümmerte den Chef nicht weiter.
Aronsson freute sich im ersten Moment, Gerdin wieder in Sichtweite zu haben, aber so wie der jetzt mit seiner Allradantriebshöllenmaschine davonschoss, würde der Kommissar ihn gleich wieder aus den Augen verlieren. Keine Chance, da dranzubleiben. Da konnte er sich genauso gut noch kurz dieses Grundstück ansehen … Sjötorp … dort war auch Gerdin schon gewesen und hatte wieder gewendet … und auf dem Briefkasten stand der Name Gunilla Björklund.
»Sollte mich nicht wundern, wenn du rote Haare hättest, Gunilla«, sagte der Kommissar.
So kam es also, dass Aronssons Volvo auf denselben Hof fuhr wie neun Stunden zuvor Henrik »Humpen« Hulténs Ford Mustang und vor wenigen Minuten Per-Gunnar »Chef« Gerdins BMW.
Wie schon der Chef vor ihm stellte auch Kommissar Aronsson fest, dass Sjötorp verlassen war. Doch er ließ sich wesentlich mehr Zeit, nach neuen Puzzleteilchen zu suchen. Eines fand er in der Küche in Form von Tageszeitungen mit heutigem Datum und ganz frischem Gemüse im Kühlschrank. Der Aufbruch musste also heute erfolgt sein. Und dann waren da natürlich noch der Mercedes und der Passat hinter dem Stall. Ersteren kannte Aronsson nur zu gut, Letzterer gehörte wohl Gunilla Björklund, wie er vermutete.
Zwei besonders interessante Beobachtungen sollte Kommissar Aronsson jedoch noch machen. Erstens fand er einen Revolver am Rand der Holzveranda. Was hatte das Ding da zu suchen? Und mit wessen Fingerabdrücken war diese Waffe wohl übersät? Aronsson tippte auf Humpen Hultén und steckte die Waffe vorsichtig in eine Plastiktüte.
Die zweite Entdeckung machte Aronsson auf dem Rückweg im Briefkasten. Unter der Tagespost befand sich ein Schreiben von der Kfz-Meldestelle, das den Halterwechsel eines gelben Scania K113, Baujahr 1992, bestätigte.
»Seid ihr jetzt mit dem Bus unterwegs, oder was?«, murmelte der Kommissar.
* * * *
Der gelbe Bus gondelte gemächlich über die Straßen. Es dauerte nicht lange, bis der BMW ihn eingeholt hatte. Aber auf dieser schmalen Straße blieb dem Chef nichts anderes übrig, als hinter ihm zu bleiben und sich den Kopf zu zerbrechen, wer wohl alles drin saß und ob sie womöglich einen grauen Koffer mit Rollen dabeihatten.
In seliger Unkenntnis der Gefahr, die fünf Meter hinter ihnen lauerte, diskutierten die Freunde im Bus die neue Situation und waren sich bald einig, dass es am besten wäre, sich für die nächsten paar Wochen noch mal ein Versteck zu suchen. Das war ja schon in Sjötorp der Plan gewesen, bis diese gute Idee plötzlich gar nicht mehr gut gewesen war, als sie unerwarteten Besuch bekommen hatten, auf den sich Sonja auch noch prompt draufgesetzt hatte.
Wie sich herausstellte, hatten Allan, Julius, Benny und die Schöne Frau ein Problem gemeinsam: Sie hatten sehr wenig Verwandte und Freunde, von denen sie sich vorstellen konnten, dass sie einen gelben Bus mit Menschen und Tieren dieser Art aufnehmen würden.
Allan entschuldigte sich damit, dass er schließlich hundert Jahre alt war, seine Freunde allesamt auf die eine oder andere Art gestorben waren und er ansonsten sowieso mittlerweile tot wäre, rein aus Altersgründen. Es war ja nur wenigen vergönnt, Jahr um Jahr alles und jeden zu überleben.
Julius meinte, er sei nicht so sehr auf Freunde, sondern eher auf Feinde spezialisiert. Die Freundschaft mit Allan, Benny und der Schönen Frau wolle er zwar gern vertiefen, aber die war in diesem Zusammenhang ja nicht relevant.
Die Schöne Frau gestand, dass sie in den Jahren nach der Scheidung schrecklich unsozial gewesen war, und als erst mal ein geheimer Elefant in ihrem Stall stand, war Publikumsverkehr auf Sjötorp nicht mehr angesagt. Auch da also Fehlanzeige in puncto hilfreiche Kontakte.
Blieb nur noch Benny. Der hatte ja einen Bruder. Den wütendsten Bruder der Welt.
Julius fragte, ob sie den Bruder nicht mit Geld bestechen könnten, und bei diesem Vorschlag hellte sich Bennys Miene auf. Sie hatten schließlich Millionen von Kronen in ihrem Koffer! Bestechung würde nicht hinhauen, denn Bosses Stolz war größer als seine Gier. Aber das war ja im Grunde nur semantische Haarspalterei. Benny würde ihn einfach bitten, das Unrecht nach all den Jahren wiedergutmachen zu dürfen.
Daraufhin rief Benny seinen Bruder an, doch kaum hatte er seinen Namen gesagt, erklärte ihm Bosse, die Flinte sei geladen, und der kleine Bruder könne gern zu Besuch kommen, wenn er eine Ladung in den Hintern kriegen wolle.
Benny erwiderte, dass er zwar keinen diesbezüglichen Wunsch hege, sich aber vorstellen könne – mit ein paar Freunden –, bei ihm vorbeizukommen, weil er die finanziellen Streitigkeiten aus der Welt schaffen wolle. Es gebe da ja sozusagen eine gewisse Diskrepanz zwischen den Brüdern, was das Erbe von Onkel Frasse betraf.
Bosse antwortete, dass sein kleiner Bruder aufhören solle, sich so scheißgeschwollen auszudrücken. Und dann kam er direkt zur Sache:
»Wie viel hast du dabei?«
»Wie wär’s mit drei Millionen?«, bot Benny.
Boss schwieg kurz und überlegte. Er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass Benny ihn niemals anrufen und sich so einen schlechten Scherz erlauben würde. Sein kleiner Bruder hatte mal eben einen Haufen Kohle! Drei Millionen! Unglaublich! Aber … angesichts dieser immensen Summe ging die Gier mit ihm durch.
»Wie wär’s mit vier?«, versuchte es Bosse.
Doch Benny hatte ein für alle Mal beschlossen, dass sein großer Bruder ihn nie wieder schikanieren würde, also sagte er:
»Wir können auch gerne in ein Hotel gehen, wenn wir dir lästig fallen.«
Darauf antwortete Bosse, sein kleiner Bruder sei ihm doch noch nie lästig gefallen. Benny und seine Freunde seien ihm allzeit herzlich willkommen, und wenn Benny den alten Ärger mit drei Millionen aus der Welt schaffen wolle – oder auch dreieinhalb Millionen, wenn ihm danach sei –, dann wäre das natürlich noch ein Pluspunkt.
Benny bekam eine Wegbeschreibung und kündigte an, dass sie in wenigen Stunden bei Bosse sein würden.
Nun schien ja doch alles gut zu werden. Und jetzt wurde die Straße auch noch schön breit und gerade.
Darauf hatte der Chef nur gewartet: eine etwas breitere und gerade Straße. Fast zehn Minuten hatte er hinter diesem Bus herdaddeln müssen, während der BMW ihm mitteilte, dass in Bälde eine Tankfüllung fällig war. Der Chef hatte nämlich seit Stockholm nicht mehr getankt – wann auch?
Das wäre nun wirklich der absolute Albtraum, wenn ihm hier mitten im Wald das Benzin ausging und er nur zusehen konnte, wie der gelbe Bus in der Ferne verschwand, vielleicht mit Bolzen und Humpen und dem Koffer, oder wer und was auch immer sich noch an Bord befinden mochte.
Daher ergriff der Chef nun die Initiative, wie es sich für den Chef eines kriminellen Biker-Clubs aus Stockholm gehörte. Er trat das Gaspedal durch, war in Sekundenschnelle an dem gelben Bus vorbei und fuhr noch hundertfünfzig Meter weiter, bevor er seinen BMW mit einer kontrollierten Schleuderbremsung zum Halten brachte, sodass er quer auf der Straße stehen blieb. Daraufhin holte er seinen Revolver aus dem Handschuhfach und machte sich bereit, das eben überholte Fahrzeug in seine Gewalt zu bringen.
Читать дальше