Selbst wenn man sich den Witterungsverhältnissen entsprechend gekleidet hat, darf man es mit Fug und Recht als kühn bezeichnen, sich mit einer von Hand gezeichneten Weltkarte und einem Kompass zu einer Himalaya-Überquerung aufzumachen. Eigentlich hätte Allan auch am nördlichen Rand des Gebirges entlangwandern können, und danach nördlich am Aralsee und am Kaspischen Meer vorbei. Doch die Wirklichkeit und die handgefertigte Karte waren nicht ganz deckungsgleich. Daher verabschiedete sich Allan von Jiang Qing und Ah Ming und brach zu seinem kleinen Marsch auf, der ihn durch Tibet, über den Himalaya, durch Britisch-Indien und Afghanistan bis in den Iran führen sollte, weiter in die Türkei und dann langsam nordwärts durch Europa.
Nach zwei Monaten Fußmarsch merkte Allan, dass er einen Gebirgskamm wohl an der falschen Seite passiert hatte, was sich nur dadurch ausbügeln ließ, dass er umkehrte und noch einmal von vorne anfing. Wieder vier Monate später (diesmal auf der richtigen Seite des Gebirgskammes) fand Allan, dass die Reise einfach zu langsam ging. Auf einem Markt in einem Bergdorf feilschte er daher um den Preis eines Kamels, mit Hilfe von Zeichensprache und seinen Chinesischkenntnissen. Zu guter Letzt wurde er sich mit dem Kamelverkäufer handelseinig, aber erst, nachdem Allan ihm ausgeredet hatte, dass die Tochter des Händlers mit ins Geschäft eingehen sollte.
Tatsächlich hatte er kurz darüber nachgedacht – nicht aus Kopulationsgründen, denn derlei Triebe hatte er nicht mehr. Die waren irgendwie in Professor Lundborgs OP geblieben. Es ging ihm eher um die Gesellschaft, denn das Leben im tibetischen Hochland konnte zuweilen ganz schön einsam werden.
Doch da die Tochter nur einen monotonen tibeto-burmesischen Dialekt sprach, von dem Allan kein Wort verstand, dachte er sich, dass er zur intellektuellen Anregung ebenso gut mit dem Kamel reden konnte. Außerdem konnte er nicht ausschließen, dass die fragliche Tochter ihrerseits gewisse sexuelle Erwartungen hegte, wenn er sich auf dieses Arrangement einließ. Er ahnte da so etwas in ihrem Blick.
Also folgten weitere zwei Monate Einsamkeit auf einem schwankenden Kamelrücken, bis er drei fremden Männern begegnete, die ebenfalls zu Kamel unterwegs waren. Er grüßte sie in sämtlichen Sprachen, die er mittlerweile beherrschte: Chinesisch, Spanisch, Englisch und Schwedisch. Zu seinem Glück hatte er mit einer Sprache Glück, Englisch nämlich.
Einer der Männer fragte Allan, wer er war und wohin er wollte. Allan erwiderte, er sei Allan und auf dem Heimweg nach Schweden. Die Männer musterten ihn mit großen Augen. Ob er auf einem Kamel bis Nordeuropa reiten wollte?
»Mit einer kurzen Unterbrechung, wenn ich das Schiff über den Öresund nehme«, erläuterte Allan.
Was der Öresund war, wussten die drei nicht. Doch nachdem sie sich vergewissert hatten, dass Allan kein Anhänger des iranischen Schahs war, dieses britisch-amerikanischen Lakaien, boten sie ihm an, mit ihnen zu reiten.
Die Männer erzählten, dass sie sich vor Jahren an der Universität Teheran kennengelernt hatten, wo sie gemeinsam Englisch studierten. Im Gegensatz zu den anderen Studenten in ihrem Kurs hatten sie die Sprache aber nicht gewählt, um später der englischen Krone besser dienen zu können. Stattdessen hatten sie nach dem Studium zwei Jahre in unmittelbarer Nähe der kommunistischen Inspirationsquelle Mao Tse-tung zugebracht, und jetzt waren sie auf dem Heimweg in den Iran.
»Wir sind Marxisten«, erklärte einer von ihnen. »Wir führen unseren Kampf im Namen des internationalen Arbeiters, und in seinem Namen werden wir eine soziale Revolution im Iran und in der ganzen Welt durchsetzen. Wir werden das kapitalistische System abschaffen, wir werden eine Gesellschaft aufbauen, die auf der wirtschaftlichen und sozialen Gleichheit aller Menschen beruht. Dann können sich alle Individuen nach ihren individuellen Fähigkeiten verwirklichen, jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen .«
»Aha«, sagte Allan. »Sagt mal, ihr habt nicht zufällig ein bisschen Schnaps für mich übrig?«
Die Männer hatten welchen. Die Flasche kreiste eine Weile von Kamelrücken zu Kamelrücken, und schon fand Allan, dass sich seine Reise langsam doch ganz nett entwickelte.
Elf Monate später hatten die vier Männer einander schon mindestens dreimal das Leben gerettet. Sie hatten Lawinen, Raubüberfälle, Eiseskälte und wiederholte Hungerphasen gemeinsam überstanden. Zwei Kamele waren draufgegangen, ein drittes hatten sie schlachten und aufessen müssen, und das vierte mussten sie dem afghanischen Zollbeamten überlassen, damit er sie ins Land ließ, statt sie zu verhaften.
Allan war nie davon ausgegangen, dass es ein Leichtes sein würde, den Himalaya zu überqueren. Im Nachhinein fand er, dass er wirklich Glück gehabt hatte, sich diesen drei iranischen Kommunisten anschließen zu können, denn allein wäre es recht schwer geworden, den Sandstürmen und Überschwemmungen in den Tälern und Temperaturen von minus vierzig Grad in den Bergen zu trotzen. Im Übrigen war mit den minus vierzig Grad ohnehin nicht zu spaßen: Im Winter 1946/47 musste die Gruppe tatsächlich auf zweitausend Meter Höhe ein Lager aufschlagen, um den Frühling abzuwarten.
Die drei Kommunisten hatten selbstverständlich auch versucht, Allan für ihren Kampf zu gewinnen, vor allem seit sie wussten, wie geschickt er im Umgang mit Dynamit und dergleichen war. Er antwortete ihnen, dass er ihnen viel Glück wünsche, aber er für seinen Teil wolle nur noch nach Hause zu seiner Hütte in Yxhult. In der Eile vergaß er völlig, dass er die Kate vor achtzehn Jahren ja eigenhändig in die Luft gesprengt hatte.
Schließlich gaben sie ihre Bekehrungsversuche auf und begnügten sich damit, dass Allan ein guter Kamerad war, der obendrein nicht über jedes bisschen Schneefall lamentierte. Sein Ansehen in der Gruppe stieg noch weiter, als er beim Warten auf besseres Wetter in Ermangelung einer sinnvolleren Beschäftigung austüftelte, wie man Schnaps aus Ziegenmilch herstellen könnte. Die Kommunisten begriffen nicht, wie er es angestellt hatte, aber diese Milch war ganz schön hochprozentig, und sie wärmte nicht nur, sondern vertrieb zwischendurch auch die schreckliche Langeweile.
Im Frühling 1947 waren sie endlich auf der südlichen Seite des höchsten Gebirges der Welt. Je näher sie an die iranische Grenze kamen, umso eifriger unterhielten sich die drei iranischen Kommunisten über die Zukunft ihrer Heimat. Jetzt würde man ein für alle Mal die Ausländer aus dem Land jagen. Schlimm genug, dass die Briten den korrupten Schah jahrelang unterstützt hatten. Aber als der es irgendwann satthatte, nach ihrer Pfeife zu tanzen, und aufmuckte, setzten ihn die Briten kurzerhand ab und brachten seinen Sohn auf den Thron. Allan musste an Song Meilings Beziehung zu Chiang Kai-shek denken und dachte bei sich, dass die Menschen in der weiten Welt schon wirklich seltsame Familienbande unterhielten.
Der Sohn war leichter zu bestechen als sein Vater, und so kontrollierten die Briten und Amerikaner mittlerweile das iranische Öl. Dem würden die drei von Mao Tse-tung inspirierten Kommunisten ein Ende setzen. Leider orientierten sich andere iranische Kommunisten eher an Stalins sowjetischen Ideen, und dann gab es noch jede Menge anderer störender revolutionärer Elemente, die auch noch die Religion mit hineinmischten.
»Interessant«, bemerkte Allan und meinte genau das Gegenteil.
Man antwortete ihm mit einer langen marxistischen Erklärung. Dieses Thema sei mehr als interessant! Und das Trio war entschlossen, entweder zu siegen oder zu sterben!
Schon am nächsten Tag stand fest, dass Letzteres der Fall sein würde, denn sowie die vier Freunde den Fuß auf iranischen Boden setzten, wurden sie von einer zufällig vorbeikommenden Grenzpatrouille verhaftet. Die drei Kommunisten hatten dummerweise jeder ein Exemplar des Kommunistischen Manifests in der Tasche (obendrein auch noch auf Persisch), wofür man sie auf der Stelle erschoss. Allan überlebte, weil er keine Literatur im Gepäck führte. Außerdem sah er nach Ausländer aus, da waren erst mal weitere Nachforschungen angesagt.
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