Dann setzte sich der Bus in Bewegung. Die Schöne Frau hatte zunächst selbst fahren wollen, und sie hätte das wohl auch gekonnt. Doch dann stellte sich heraus, dass Benny auch beinahe Fahrlehrer war und die Berechtigung für alle erforderlichen Klassen auf seinem Führerschein eingetragen hatte, und so kam man überein, dass lieber er sich ans Steuer setzen sollte. Die Gruppe musste ja nicht gegen noch mehr Gesetze verstoßen als sowieso schon.
Am Briefkasten bog Benny nach links ab, fort von Rottne und Braås. Nach den Angaben der Schönen Frau gelangte man nach einigem Gekurve und Gekurbel über Waldwege irgendwann nach Åby und danach auf die Landstraße 30 Richtung Lammhult. Das Ganze würde eine halbe Stunde dauern. Warum sollte man diese Zeit nicht nutzen, um die nicht ganz unwichtige Frage zu diskutieren, wohin man eigentlich fahren wollte?
* * * *
Vor vier Stunden hatte der Chef ungeduldig auf den einzigen seiner Handlanger gewartet, der noch nicht verschwunden war. Sowie Caracas von der Angelegenheit zurückkehrte, die er zu erledigen hatte – worin auch immer sie bestanden haben mochte –, wollte der Chef mit ihm Richtung Süden fahren. Aber nicht auf dem Motorrad und auch nicht mit der Clubjacke. Jetzt war Vorsicht angesagt.
Der Chef hatte ohnehin noch einmal über die Sache mit den Clubjacken und dem Never-Again -Symbol auf dem Rücken nachgedacht. Er hatte damit eine eigene Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe schaffen und Außenstehenden Respekt einflößen wollen. Doch erstens war die Gruppe ja wesentlich kleiner als ursprünglich geplant – ein Quartett, bestehend aus Bolzen, Humpen, Caracas und ihm selbst, konnte man auch ohne Clubjacken zusammenhalten. Und zweitens nahm die geschäftliche Ausrichtung ja eine Richtung, bei der eine Clubjacke mit Wiedererkennungswert eher kontraproduktiv war. Als Bolzen für die Transaktion nach Malmköping geschickt wurde, erhielt er die etwas ambivalente Anweisung, einerseits im Sinne der Diskretion die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, andererseits aber die Clubjacke mit der Never-Again -Aufschrift auf dem Rücken zu tragen, damit der Russe wusste, mit wem er sich anlegte, wenn er sich denn anlegen wollte.
Doch jetzt war Bolzen auf der Flucht … oder was auch immer mit ihm passiert sein mochte. Und auf dem Rücken trug er ein Emblem, das mehr oder weniger sagte: » Bei Rückfragen einfach den Chef anrufen .«
Verdammt!, dachte der Chef. Wenn dieses ganze Chaos überstanden war, würde er die Jacken abfackeln. Aber wo zum Teufel blieb Caracas nur? Sie wollten doch los!
Caracas tauchte mit achtminütiger Verspätung auf und entschuldigte sich damit, dass er sich im Seven-Eleven noch schnell eine Wassermelone hatte kaufen müssen.
»Erfrischend und lecker«, erklärte er.
»Erfrischend und lecker? Die halbe Organisation ist verschwunden, mitsamt unseren fünfzig Millionen Kronen, und du gehst noch schnell Obst kaufen?«
»Melonen sind kein Obst«, korrigierte Caracas. »Streng genommen gehören sie zu den Kürbisgewächsen.«
Da platzte dem Chef endgültig der Kragen. Er nahm die Wassermelone und donnerte sie dem armen Caracas mit solcher Wucht auf den Schädel, dass sie zerplatzte. Woraufhin Caracas in Tränen ausbrach und bockte, jetzt wolle er gar nicht mehr mitmachen. Seit erst Bolzen und dann Humpen verschwunden waren, hatte der Chef ihm die Hölle heiß gemacht, als wäre Caracas irgendwie schuld an der ganzen Sache. Nein, jetzt sollte der Chef mal schön sehen, wie er allein zurechtkam. Caracas wollte sich jetzt ein Taxi rufen, nach Arlanda fahren und nach Hause fliegen zu seiner Familie in … Caracas. Da riefen einen die Leute dann wenigstens wieder beim richtigen Namen.
» ¡Vete a la mierda! «, heulte Caracas und rannte hinaus.
Der Chef seufzte schwer. Diese Bescherung wurde von Minute zu Minute übler. Erst verschwand Bolzen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er seinen Frust zum Teil an Humpen und Caracas ausgelassen hatte. Dann verschwand Humpen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er seinen Frust zum Teil an Caracas ausgelassen hatte. Und dann verschwand Caracas – um Wassermelonen zu kaufen, und der Chef musste sich im Nachhinein eingestehen, dass er … ihm in seinem Frust nicht die Melone auf den Schädel hätte donnern dürfen.
Jetzt musste er alleine Jagd machen auf … ja, worauf eigentlich? Das wusste er selbst nicht recht. Sollte er Bolzen suchen? Hatte Bolzen etwa den Koffer geklaut, könnte er wirklich so bescheuert gewesen sein? Und was war mit Humpen passiert?
Der Chef fuhr standesgemäß in seinem nagelneuen BMW X5. Und meistens viel zu schnell. Die Beamten im Zivilpolizeiauto, die zu seiner Beschattung abgestellt waren, zählten während der Fahrt nach Småland die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung und waren sich nach dreihundert Kilometern einig, dass der Mann am Steuer dieses BMW seinen Führerschein in den nächsten vierhundert Jahren nicht zurückbekommen dürfte, wenn man ihn für alles belangte, was er sich auf der Straße so einfallen ließ. Aber das würde natürlich nie geschehen.
Die Route führte jedenfalls an Åseda vorbei, wo die beiden von Kommissar Aronsson abgelöst wurden, dem Kollegen aus Stockholm. Er bedankte sich für ihre Hilfe und erklärte, ab hier komme er allein zurecht.
Mit Hilfe der GPS-Navi im BMW hatte der Chef keine Probleme, bis nach Sjötorp zu finden. Aber je näher er kam, desto ungeduldiger wurde er. Er steigerte seine bereits illegale Geschwindigkeit derart, dass Kommissar Aronsson kaum noch hinterherkam. Er musste ja auch die ganze Zeit einen gewissen Abstand halten, damit Per-Gunnar »Chef« Gerdin nicht merkte, dass er verfolgt wurde. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, verlor Aronsson den Chef jetzt beinahe aus den Augen. Nur auf den Straßenabschnitten, die über eine gewisse Strecke schnurgerade verliefen, konnte er den BMW noch sehen, bis er … ja, bis er ihn irgendwann nicht mehr sehen konnte!
Wohin war Gerdin verschwunden? Er musste irgendwo abgebogen sein, oder? Aronsson ging vom Gas. Bei dem Gedanken, was jetzt vielleicht geschehen könnte, brach ihm der Schweiß auf der Stirn aus.
Dort hinten konnte man links abbiegen, hatte er dort die Landstraße verlassen? Oder war er geradeaus weitergefahren bis … Rottne hieß dieser Ort wohl? Und hier waren lauter Bodenschwellen, hätte Aronsson Gerdin nicht allein deswegen schon wieder einholen müssen? Und was, wenn Gerdin nun doch nicht hier abgebogen war?
Doch, bestimmt. Aronsson wendete und bog auf den Weg, auf dem er den Chef vermutete. Jetzt galt es die Augen offen zu halten, denn wenn Gerdin hier eingebogen war, musste er bald am Ziel sein.
* * * *
Der Chef stieg in die Eisen, um von 180 auf 20 herunterzubremsen. Rasch bog er auf den Waldweg ab, den das Navi ihm angezeigt hatte. Noch 3,7 Kilometer bis zum Fahrtziel.
Kurz bevor er beim Sjötorper Briefkasten angekommen war, machte der Weg eine letzte Biegung, und der Chef sah gerade noch das Heck eines riesigen Lasters, der sich aus der Ausfahrt herausmanövriert hatte, in die der Chef wohl hineinfahren musste. Was jetzt? Wer saß in diesem Fahrzeug? Und wer war noch in Sjötorp?
Der Chef beschloss, den Laster fahren zu lassen. Stattdessen bog er auf den kurvenreichen schmalen Weg, der, wie sich herausstellte, zu einem kleinen Wohnhaus führte, einem Viehstall und einem Geräteschuppen, der schon bessere Tage gesehen hatte.
Aber kein Humpen. Kein Bolzen. Kein Tattergreis. Keine rothaarige Alte. Und definitiv kein Koffer mit Rollen.
Der Chef blieb noch ein paar Minuten stehen und überlegte. Menschen hielten sich hier offenbar nicht mehr auf, aber hinter dem Stall standen zwei Autos versteckt: ein roter Passat und ein silberner Mercedes.
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