Die Übertragung war zu Ende. Der Oberkellner trug seinen Apparat zurück ins Restaurant. Lillian lehnte sich zurück. Fast sichtbar schien ein Bild noch einen Augenblick im stillen, goldenen Nachmittagslicht der Terrasse zu hängen, zwischen dem leisen Klirren von Eisstücken in Gläsern und dem Klappern der Porzellanteller, die übereinander gehäuft, anzeigten, wieviel man getrunken hatte — ein Bild ohne Farbe, durchsichtig wie im Wasser manche Krustazeen, so daß man dahinter die Stühle und Tische der Terrasse des Fouquet noch erkennen konnte — , das Bild eines grauen Marktplatzes, voll von abstraktem Lärm, der durch viele Echos seinen individuellen Ton verloren hatte, und die Gespenster der Wagen, einer hinter dem andern, mit zwei winzigen Funken Leben in jedem, die nichts weiter wollten als sich selbst zu riskieren. »Es regnet in Brescia«, sagte sie. »Wo liegt Brescia eigentlich?«
»Zwischen Mailand und Verona«, erwiderte Peystre.
»Wollen Sie heute abend mit mir essen?«
* * *
Die Girlanden hingen in Fetzen herunter, zerschlagen vom Regen. Die Flaggen klatschten nass gegen die Fahnenstangen. Das Gewitter tobte, als würde nicht nur eine Konkurrenz auf dem Erdboden ausgefahren, sondern eine zweite mit unsichtbaren Wagen in den Wolken. Der künstliche und der natürliche Donner wechselten miteinander ab; dem Aufbrüllen eines Wagens antwortete der Blitz und das Gepolter von oben. »Noch fünf Minuten«, sagte Torriani.
Clerfayt hockte hinter dem Steuer. Er war nicht sehr gespannt. Er wußte, daß er keine Chancen hatte; aber bei einem Rennen gab es immer Überraschungen, und bei einem langen Rennen gab es viele Zufälle.
Er dachte an Lillian und die Targa Florio. Damals hatte er sie vergessen gehabt und sie gehasst, weil er während des Rennens plötzlich wieder an sie gedacht und sie ihn gestört hatte. Das Rennen war wichtiger gewesen als sie. Jetzt war es anders. Er war ihrer nicht mehr sicher und dachte an sie, aber er gab sich keine Rechenschaft darüber, daß das nur an ihm lag. Weiß der Teufel, ob sie noch in Paris ist, dachte er. Er hatte am Morgen noch mit ihr telefoniert; aber in diesem Lärm schien der Morgen endlos weit. »Hast du Lillian telegrafiert?«
»Ja«, erwiderte Torriani. »Noch zwei Minuten.«
Clerfayt nickte. Der Wagen rollte langsam vom Marktplatz der Viale Venezia zu und stoppte. Niemand stand mehr vor ihnen. Der Mann mit der Stoppuhr war von jetzt an für mehr als einen halben Tag und eine halbe Nacht das Wichtigste auf der Welt für sie. Er sollte es sein, dachte Clerfayt; aber er ist es nicht mehr. Ich denke zuviel an Lillian. Ich sollte Torriani fahren lassen, aber jetzt ist es zu spät. »Zwanzig Sekunden«, sagte Torriani.
»Gott sei Dank! Los, zum Teufel!«
Der Starter winkte, und der Wagen schoß davon. Schreie flogen ihm nach. »Clerfayt«, rief der Ansager, »mit Torriani als Mechaniker ist gestartet.«
* * *
Lillian kam ins Hotel zurück. Sie fühlte, daß sie Fieber hatte, aber sie beschloß, es zu ignorieren. Sie hatte es oft, manchmal nur einen Grad, manchmal mehr, und sie wußte, was es bedeutete. Sie blickte in den Spiegel. Man sieht wenigstens abends dann nicht so erloschen aus, dachte sie und lächelte sich zu über den Trick, den sie wieder gebrauchte: das Fieber aus einem Feind zu einem abendlichen Freund zu machen, der den Augen Glanz und dem Gesicht die sanfte Erregung der höheren Temperatur gab.
Als sie vom Spiegel zurücktrat, sah sie die beiden Telegramme auf dem Tisch. Clerfayt, dachte sie mit einem Herzschlag von Panik. Aber was konnte schon so schnell passiert sein? Sie wartete eine Weile und starrte die kleinen, gefalteten und verklebten Papiere an. Vorsichtig nahm sie dann das erste hoch und öffnete es. Es war von Clerfayt. »Wir starten in fünfzehn Minuten. Sintflut. Fliege nicht fort, Flamingo.« Sie legte das Papier neben sich. Nach einer Weile öffnete sie das zweite. Sie hatte noch mehr Angst als vorher; es konnte von der Rennleitung sein, über einen Unfall, aber es war ebenfalls von Clerfayt. Warum tut er das? dachte sie. Weiß er nicht, daß jedes Telegramm in solcher Zeit Angst macht?
Sie öffnete ihren Schrank, um ein Kleid für den Abend herauszusuchen. Es klopfte. Der Hausknecht stand draußen. »Hier ist das Radio, Mademoiselle. Sie bekommen Rom und Mailand leicht damit.«
Er stöpselte den Draht ein. »Hier ist noch ein Telegramm.«
Wie viele wird er denn noch schicken? dachte sie. Am besten wäre es, wenn er einen Detektiv in das Zimmer nebenan setzen würde, um mich zu kontrollieren. Sie suchte ein Kleid aus. Es war das, das sie in Venedig getragen hatte. Er war gereinigt worden und hatte keine Flecken mehr. Sie glaubte seitdem, es bringe Glück und betrachtete es als Maskotte. Sie hielt es fest in der Hand, während sie das letzte Telegramm öffnete. Es war nicht von Clerfayt; aber es enthielt Glückwünsche für Clerfayt. Wie kam das hierher zu ihr? Sie sah noch einmal auf die Unterschrift in der tiefen Dämmerung. Hollmann. Sie suchte nach dem Ort, von dem es aufgegeben war. Es kam vom Sanatorium Bella Vista.
Sie legte das Blatt sehr behutsam auf den Tisch. Heute ist der Tag der Geister, dachte sie und setzte sich auf ihr Bett — Clerfayt, der dort im Radiokasten sitzt und mit seinem dröhnenden Motor darauf wartet, das Zimmer zu erfüllen — und jetzt dieses Telegramm, das schweigende Gesichter durch das Fenster starren läßt. Es war die erste Nachricht, die sie je vom Sanatorium erhalten hatte. Sie hatte auch selbst nie geschrieben. Sie hatte es nicht gewollt. Sie hatte es für immer hinter sich lassen wollen. Sie war so sicher gewesen, nie zurückzukehren, daß der Abschied wie Tod gewesen war.
Sie saß lang still. Dann drehte sie die Knöpfe des Radios; es war die Zeit der Nachrichten. Rom stürzte herein mit einem Schwall von Lärm, mit Namen, bekannten, unbekannten Orten, Städten, Mantua, Ravenna, Bologna, Aquila, mit Stunden, Minuten, mit der aufgeregten Stimme des Ansagers, der gewonnene Minuten behandelte, als wären sie der heilige Gral, der Defekte an Wasserpumpen, festgefressene Kolben, zerbrochene Benzinleitungen beschrieb, als beschriebe er Weltunglücke, und der wie einen Sturm das Rennen nach der Zeit hereinjagte in das halbdunkle Zimmer, das Rasen um Sekunden, nicht um Sekunden Leben, sondern um auf einer nassen Straße mit zehntausend Kurven und einer schreienden Menge ein paar hundert Meter früher an einem Ort zu sein, den man sofort wieder verließ, ein Rasen, als wäre die Atombombe hinter einem her. Warum verstehe ich es nicht? dachte Lillian. Warum spüre ich nichts von dem Rausch der Millionen Menschen, die an diesem Abend und in dieser Nacht die Chausseen Italiens säumen? Sollte ich es nicht stärker fühlen? Ist nicht mein eigenes Leben ähnlich? Ein Rennen, um so viel an sich zu reißen, wie man kann, ein Jagen nach dem Phantom, das vor einem herschießt wie der künstliche Hase vor der Meute beim Windhundrennen?
»Florenz«, meldete die Stimme am Radio triumphierend und begann Zeiten aufzuzählen, Namen wieder und Automarken, Durchschnittsgeschwindigkeiten und Höchstgeschwindigkeiten, und dann voller Stolz: »Wenn die führenden Wagen so weiterfahren, werden sie in neuer Rekordzeit wieder in Brescia sein!«
Lillian stutzte. In Brescia, dachte sie. Zurück in der kleinen Provinzstadt mit Garagen, Cafés und Läden, von der sie aufgebrochen waren. Sie spielten mit dem Tode, sie tobten durch die Nacht, sie fielen der entsetzlichen Müdigkeit des frühen Morgens anheim mit starren, maskengleichen, vom Dreck verkrusteten Gesichtern, sie rasten weiter, weiter, als ginge es um das Größte der Welt — alles nur, um wieder in die kleine Provinzstadt zurückzukehren, von der sie gekommen waren! Von Brescia nach Brescia!
Sie stellte das Radio ab und ging zum Fenster. Von Brescia nach Brescia! Gab es ein stärkeres Symbol der Sinnlosigkeit? Hatte das Leben ihnen dazu Wunder wie gesunde Lungen und Herzen geschenkt, unbegreifliche chemische Fabriken wie die Leber und die Nieren, eine weiße, weiche Masse im Schädel, die phantastischer war als sämtliche Sternsysteme, alles das, um es zu riskieren und, wenn sie Glück hatten, von Brescia nach Brescia zu kommen? Welch entsetzliche Narrheit!
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