Clerfayt brachte ihr ein Glas. Sie legte den Arm um seinen Nacken. »Es ist sonderbar«, murmelte sie, »aber solange man nicht vergisst, daß man fällt und fällt, ist nichts verloren. Das Leben scheint Paradoxe zu lieben, — wenn man glaubt, man sei ganz sicher, ist man immer lächerlich und kurz vor dem Absturz — , aber wenn man weiß, daß man verloren ist, überschüttet es einen mit Geschenken. Man braucht nichts dazu zu tun — es läuft einem nach wie ein Pudel.«
Clerfayt setzte sich neben sie. »Woher weißt du das alles?«
»Ich rede nur so daher. Es sind Halbwahrheiten — wie alles.«
»Die Liebe auch?«
»Was hat Liebe mit Wahrheit zu tun?«
»Nichts. Sie ist das Gegenteil davon.«
»Nein«, sagte Lillian und stand auf. »Das Gegenteil von Liebe ist Tod — und Liebe ist die bittere Verzauberung, die ihn uns für kurze Zeit vergessen macht. Deshalb weiß jeder, der etwas vom Tode weiß, auch etwas von der Liebe.« Sie streifte ihr Kleid über. »Auch das ist eine Halbwahrheit. Wer weiß schon etwas vom Tode?«
»Niemand — nur, daß er das Gegenteil des Lebens ist — nicht das der Liebe, und auch das ist zweifelhaft.«
Lillian lachte. Clerfayt war wieder so wie früher.
»Weiß du, was ich möchte?« fragte sie. »Zehn Leben auf einmal leben.«
Er strich über die schmalen Achselbänder ihres Kleides.
»Wozu? Es würde doch immer nur eines sein, Lillian — so wie ein Schachspieler, der gegen zehn verschiedene Partner spielt, eigentlich immer nur ein einziges Spiel spielt — sein eigenes.«
»Das habe ich auch herausgefunden.«
»In Venedig?«
»Ja, aber nicht so wie du denkst.«
Sie standen am Fenster. Über der Conciergerie hing ein blasses Abendrot. »Ich möchte mein Leben durcheinander werfen«, sagte Lillian. »Ich möchte jetzt einen Tag oder eine Stunde leben aus meinem fünfzigsten Jahr — dann eine aus meinem dreißigsten, dann eine aus meinem achtzigsten — alle in einem Tag, so wie ich grade Lust habe — nicht eine nach der anderen an der Kette der Zeit.«
Clerfayt lachte. »Für mich veränderst du dich schnell genug, so wie du bist. Wo wollen wir essen?«
Sie gingen die Treppe hinunter. Er versteht nicht, was ich meine, dachte Lillian. Er hält mich für kapriziös; aber er spürt nicht, daß ich nur das Jenseits beschwören möchte, mir ein paar von den Tagen herauszugeben, die ich nie leben werde. Immerhin — ich werde dafür auch nie eine achtzigjährige, zänkische Greisin werden oder die alternde Enttäuschung eines Mannes, die er nicht wieder sehen möchte und vor der er erschrickt, wenn er ihr nach Jahren begegnet — ich werde jung im Gedächtnis meines Geliebten bleiben und dadurch stärker sein als alle Frauen nach mir, die länger leben und älter werden als ich.
»Worüber lachst du?« fragte Clerfayt auf der Treppe.
»Über mich?«
»Über mich«, sagte Lillian. »Aber frag mich nicht, warum — du wirst es schon zur Zeit herausfinden.«
* * *
Er brachte sie zwei Stunden später zurück. »Genug für heute«, sagte er lächelnd. »Du brauchst Schlaf.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Schlaf?«
»Ruhe. Du hast mir erzählt, daß du krank warst.«
Sie suchte in seinem Gesicht nach einem verborgenen Scherz. »Meinst du das wirklich?« fragte sie dann. »Sag mir nicht noch, daß ich müde aussehe.«
Der Nachtportier erschien mit wissendem Grinsen.
»Salami heute abend? Kaviar? Die Patronne hat den Kaviar draußen gelassen.«
»Ein Schlafmittel«, erklärte Lillian. »Gute Nacht, Clerfayt.«
Er hielt sie fest. »Versteh mich doch, Lillian! Ich will nicht, daß du dir zuviel zumutest und morgen einen Rückfall hast.«
»Du warst nicht so vorsichtig im Sanatorium.«
»Damals glaubte ich, ich würde in ein paar Tagen abfahren und dich nie wieder sehen.«
»Und jetzt?«
»Jetzt opfere ich ein paar Stunden, weil ich dich so lange behalten will, wie ich kann.«
»Praktisch!« sagte Lillian böse. »Gute Nacht, Clerfayt.«
Er sah sie scharf an. »Bringen Sie eine Flasche Vouvray nach oben«, sagte er dann zu dem Nachtportier.
»Sehr wohl, mein Herr.«
»Komm!« Clerfayt nahm Lillians Arm. »Ich bringe dich hinauf.«
Sie schüttelte den Kopf und machte sich los. »Weißt du, mit wem ich das letzte Mal solch ein Argument gehabt habe? Mit Boris. Aber er war besser darin. Du hast recht, Clerfayt. Es ist ausgezeichnet, wenn du früh schlafen gehst; du mußt dich ausruhen für dein nächstes Rennen.«
Er starrte sie ärgerlich an. Der Portier kam mit der Flasche und zwei Gläsern. »Wir brauchen den Wein nicht«, sagte Clerfayt.
»Doch, ich brauche ihn.« Lillian nahm die Flasche, schob sie unter den Arm und nahm ein Glas. »Gute Nacht, Clerfayt. Lass uns heute nicht davon träumen, daß wir fallen — in den Raum, der kein Ende hat — träume du lieber heute von Toulouse!«
Sie winkte mit dem Glas und ging die Treppe hinauf. Er blieb stehen, bis er sie nicht mehr sah. »Einen Kognak, mein Herr?« fragte der Nachtportier. »Vielleicht einen doppelten?«
»Für Sie!« erwiderte Clerfayt und steckte ihm ein paar Scheine in die Hand.
Er ging den Quai des Grands-Augustins entlang bis zum Restaurant La Périgourdine. Hinter den erleuchteten Fenstern sah er die letzten Paare in Asche gebratene Trüffeln essen, die Spezialität des Hauses. Ein altes Ehepaar zahlte; ein junges Liebespaar log sich glühend etwas vor. Clerfayt überquerte die Straße und ging langsam zurück, an den geschlossenen Kästen der Buchhändler entlang. Boris, dachte er wütend. Das auch noch! Der Wind brachte den Geruch der Seine herüber. Schwarz lagen ein paar Lastkähne in der atmenden Dunkelheit. Von einem klang das Jammern einer Ziehharmonika.
Lillians Fenster waren hell; aber die Vorhänge waren zugezogen. Clerfayt sah ihren Schatten davor hin- und herschwanken. Sie blickte nicht hinaus, obschon die Fenster geöffnet waren. Clerfayt wußte, daß er sich falsch benommen hatte, doch er konnte nichts dagegen tun. Er hatte gemeint, was er gesagt hatte. Und Lillian hatte sehr müde ausgesehen; ihr Gesicht war plötzlich im Restaurant zusammengefallen. Als wäre es ein Verbrechen, besorgt zu sein, dachte er. Was mochte sie jetzt tun? Packen? Ihm fiel plötzlich ein, daß sie wissen mußte, er sei noch da — sie hatte Giuseppe noch nicht abfahren hören. Rasch überquerte er die Straße und sprang in den Wagen. Er ließ ihn an, gab übermäßig Gas und schoß davon, der Place de la Concorde zu.
* * *
Lillian stellte behutsam die Flasche Wein auf den Boden neben das Bett. Sie hörte Giuseppe abfahren. Dann suchte sie einen Regenmantel aus ihren Koffer und zog ihn an. Es war eine sonderbare Kombination mit dem eleganten Kleid, aber sie hatte keine Lust, sich umzuziehen; der Mantel deckte das Kleid einigermaßen zu. Sie wollte nicht zu Bett gehen. Das hatte sie im Sanatorium und in der letzten Woche ausgiebig gehabt. Sie ging die Treppen hinunter. Der Nachtportier kam herangelaufen. »Taxi, Madame?«
»Nein, kein Taxi.«
Sie trat auf die Straße und gelangte, ohne viel zu erleben, bis zum Boulevard St.-Michel. Dann aber hagelte es Angebote, weiße, braune, schwarze und gelbe. Es war, als sei sie in einen Sumpf geraten, und die Mücken stürzten sich auf sie. Sie bekam in wenigen Minuten einen kurzen, aber intensiven Lehrkurs in geflüsterter, einfachster Erotik, gegen die ein paar Straßenhunde ein ideales Liebespaar waren.
Etwas betäubt setzte sie sich an einen der Tische, die vor den Cafés standen. Die Huren musterten sie scharf; sie hatten ihr Revier und waren bereit, sich gegen jede Konkurrenz mit Zähnen und Krallen zu wehren. Der Tisch wurde auch sofort das Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit; Frauen dieser Art saßen um diese Zeit nicht allein in diesen Cafés. Nicht einmal Amerikanerinnen.
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