Clerfayt sah den Zweifel im Blick des Rennleiters. Noch fragen sie mich, dachte er. Bald werden sie nicht mehr fragen. »Lassen Sie ihn weiterfahren«, sagte er.
»Solange er kann. Er ist jung, er kann es aushalten.«
»Er ist zu nervös.«
»Er fährt großartig.«
Der Rennleiter nickte. »Es wäre ohnehin Selbstmord für Sie, mit Ihrer Schulter, in den Kurven«, sagte er, unaufrichtig.
»Es wäre kein Selbstmord. Ich müßte nur langsamer fahren.«
»Heilige Mutter Gottes!« betete der Rennleiter weiter. »Lass Torellis Bremsen festfressen! Nicht, daß er stürzt, aber so, daß er nicht weiterfahren kann. Schütze Weber und Torriani! Gib Bordoni ein Loch in den Tank!« Er wurde bei jedem Rennen in seiner Weise fromm; im Augenblick, wenn es zu Ende war, begann er erleichtert wieder zu fluchen.
Eine Runde vor Schluß rollte der Wagen Torrianis vor das Depot. Torriani hing über dem Steuerrad. »Was ist los?« brüllte der Rennleiter. »Können Sie nicht weiterfahren? Was ist los? Hebt ihn raus! Clerfayt! Heilige, gelobte Madonna, Mutter der Schmerzen — er hat einen Hitzschlag! Unglaublich! So heiß ist es doch gar nicht! Im Frühjahr! Können Sie nicht weiterfahren? Der Wagen —«
Die Monteure arbeiteten schon. »Clerfayt!« betete der Rennleiter. »Bringen Sie nur den Wagen zurück! Weber liegt als dritter vorne, es macht nichts, selbst wenn wir ein paar Minuten verlieren! Sie werden immer noch vierter. Rein in die Kiste! Himmel, Herrgott, was für ein Rennen!«
Clerfayt saß schon im Wagen. Torriani war zusammengefallen. »Nur den Wagen zurück!« betete der Rennleiter. »Bringen Sie nur den Wagen zurück! Und den vierten Preis! Weber natürlich den dritten! Oder den zweiten. Und noch ein kleines Loch in Bordonis Tank! Dazu, in deiner Güte, heilige Jungfrau, ein paar defekte Reifen für die übrige Konkurrenz! Das süße Blut Jesu —«
Eine Runde, dachte Clerfayt. Sie geht vorüber. Man kann den Schmerz ertragen. Er ist geringer, als in einem Konzentrationslager am Kreuze zu hängen. Ich habe einen Jungen gesehen, dem vom SD in Berlin die gesunden Zähne bis in die Wurzeln aufgebohrt worden waren, damit er Freunde verraten sollte. Er hatte sie nicht verraten. Weber liegt vorne. Es ist egal, was ich mache. Es ist nicht egal! Wie sich das dreht! Die Karre ist doch kein Flugzeug! Herunter mit dem verdammten Gashebel! Angst ist schon der halbe Unfall!
* * *
Die mechanische Stimme des Ansagers dröhnte: »Clerfayt ist wieder im Rennen. Torriani ist ausgefallen!«
Lillian sah den Wagen vorüberschießen. Sie sah die bandagierte Schulter. Dieser Narr! dachte sie. Dieses Kind, das nie aufgewachsen ist. Leichtsinn ist nicht Mut. Er wird wieder stürzen! Was wissen sie alle vom Tode, diese leichtfertigen Gesunden? Die oben wissen es, die jeden Atemzug wie eine Belohnung erkämpfen müssen! Eine Hand neben ihr schob eine Visitenkarte in die ihre. Sie warf sie weg und stand auf. Sie wollte fortgehen. Hundert Augen richteten sich auf sie. Es war, als folgten ihr hundert leere Linsen, die die Sonne reflektierten. Sie folgten ihr aufmerksam. Leere Augen, dachte sie. Augen, die sehen und nicht sehen. War es nicht immer so? Wo nicht? Sie dachte wieder an das Sanatorium im Schnee. Dort war es anders gewesen. Dort waren wissende Augen gewesen.
Sie ging die Treppe der Tribüne hinunter. Was tue ich hier, unter diesen fremden Menschen? dachte sie und blieb stehen, als hätte ein starker Windstoß sie getroffen. Ja, was tue ich hier? dachte sie. Ich wollte hierher zurück; aber kann man zurück? Ich wollte mit aller Kraft meines Herzens zurück; aber gehöre ich jetzt dazu? Bin ich geworden wie die andern hier? Sie sah sich um. Nein, dachte sie, ich gehöre nicht dazu! Man konnte nicht zurück in die Wärme der Ahnungslosigkeit. Man konnte nichts ungeschehen machen. Das dunkle Geheimnis, das sie kannte und das die andern zu ignorieren schienen, ließ sich nicht vergessen. Es blieb mit ihr, wohin sie auch floh. Ihr war, als fiele jäh die bunte und goldene Dekoration eines Theaterstückes zusammen, und sie könne das kahle Gerüst dahinter sehen. Es war keine Ernüchterung; nur ein Moment großer Klarsicht: Sie konnte nicht zurück, und es gab keine Hilfe von außen. Dafür aber, das fühlte sie im selben Augenblick, sprang die eine, letzte Fontäne, die ihr geblieben war, um so höher, ihre Kraft wurde nicht mehr auf ein Dutzend Brunnen verteilt, sondern nur noch auf einen, um so zu versuchen, die Wolken und Gott zu erreichen. Sie würde sie nie erreichen, — aber war nicht der Versuch auch schon genug, und das Zurücksinken des tanzenden Wassers zu sich selbst bereits auch eine Erfüllung? Zu sich selbst, dachte sie. Wie weit man floh, und wie hoch man zielen mußte, um dahin zu gelangen!
Ihr war plötzlich, als sei eine anonyme Last von ihr genommen worden. Etwas wie eine dumpfe, überlebte Verantwortung sank von ihren Schultern auf die Holztreppen der Tribüne hinunter, und sie stieg darüber hinaus wie über ein altes Kleid. Wenn auch die Dekorationen des Theaterstückes gefallen waren: das Gerüst war geblieben, und wer seine Kahlheit nicht fürchtete, der war unabhängig und konnte mit und vor ihm spielen, wie er wollte, und wie es seiner Angst oder seiner Kühnheit entsprach. Er konnte seine eigene Einsamkeit in tausend Variationen daran aufziehen, sogar in der Liebe — das Stück hörte nie auf. Es verwandelte sich nur. Man wurde sein einziger Schauspieler und Zuschauer zugleich.
Der Beifall der Menge knatterte wie eine Maschinengewehrsalve um sie her. Die Fahrer kamen zurück. Klein und bunt schossen sie durchs Ziel. Lillian blieb auf der Treppe stehen, bis sie Clerfayts Wagen sah. Dann stieg sie langsam, umraucht von fremdem Beifall, die Treppen hinunter, in die Kühle einer neuen, kostbaren Erkenntnis, die ebensogut den Namen Freiheit wie Einsamkeit tragen konnte, und in die Wärme einer Liebe, in der bereits das Wort Verlassen rauschte, und beide kamen ihr entgegen wie eine Sommernacht, in der Fontänen sprangen.
Clerfayt hatte das Blut abgewischt, aber seine Lippen tropften noch. »Ich kann dich nicht küssen«, sagte er.
»Hast du Angst gehabt?«
»Nein. Aber du solltest nicht mehr fahren.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Clerfayt geduldig. Er kannte diese Reaktion. »War ich so schlecht?« fragte er und verzog vorsichtig das Gesicht.
»Es war großartig«, sagte Torriani, der mit käsigem Gesicht auf einer Kiste saß und Kognak trank.
Lillian blickte ihn feindselig an. »Es ist vorbei«, sagte Clerfayt. »Denk nicht mehr daran, Lillian. Es war nicht gefährlich. Es sah nur so aus.«
»Du solltest nicht fahren«, wiederholte sie.
»Gut. Morgen zerreißen wir den Kontrakt. Zufrieden?«
Torriani lachte. »Und übermorgen kleben wir ihn wieder zusammen.«
Der Rennleiter Gabrielli kam vorbei, und die Monteure schoben die Wagen herein. Es stank nach verbranntem Öl und Benzin. »Kommen Sie heute abend, Clerfayt?« fragte Gabrielli.
Clerfayt nickte. »Wir sind hier im Wege, Lillian«, sagte er dann. »Lass uns aus diesem schmutzigen Stall ausbrechen.« Er sah ihr Gesicht. Es hatte noch immer den sonderbaren Ernst wie vorher. »Was ist los?« fragte er. »Willst du wirklich, daß ich nicht mehr fahre?«
»Ja.«
»Warum?«
Sie zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll — aber es ist, irgendwie — tief unmoralisch.«
»Großer Gott!« sagte Torriani.
»Sei ruhig, Alfredo«, erwiderte Clerfayt.
»Es klingt albern, ich weiß es«, sagte Lillian. »Ich meine es auch nicht so. Vor ein paar Minuten wußte ich es noch ganz klar; jetzt nicht mehr.«
Torriani nahm einen großen Schluck. »Rennfahrer sind nach dem Rennen so empfindlich wie Krebse nach dem Häuten. Geben Sie uns keinen Komplex.« Clerfayt lachte. »Du meinst, man solle Gott nicht versuchen, Lillian?«
Читать дальше