Es war dieses kurze Stück, der Moment des Passierens, nach Kilometern durch dichten Staub, und dann plötzlich der blaue Himmel, die reine Luft, die wie Wein gegen sein staubverkrustetes Gesicht schlug, die Hitze des rasenden Motors, die Sonne, der Vulkan in der Ferne, die Welt, die wieder da war, einfach, groß, still, unbeteiligt an Rennen und Menschen, und der prometheushafte Augenblick, als der Wagen die Höhe erreichte, die Clerfayt hochrissen und über sich selbst hinwegwarfen, so daß er an nichts mehr dachte, aber alles gleichzeitig war: der Wagen, den er in den Händen hielt, der Vulkan, dessen Trichter in die Hölle führte, und der Himmel aus blauem heißen Metall, gegen den er anstürmte. Sekunden später stürzte die Straße sich wieder von der Höhe hinab, in Kurven auf Kurven, der Wagen mit ihr, schaltend, schaltend, wer am besten schalten konnte, mußte hier gewinnen, hinunter ins Tal des Fiume Grande, gleich darauf wieder neunhundert Meter hinauf in eine Mondlandschaft, dann wieder herunter, wie in einer Riesenschaukel, bis bei Collesano die Palmen aufs neue begannen, die Agaven, die Blumen, das Grün und das Meer und bei Campo Felice die einzige gerade Strecke des Rennens, sieben Kilometer am Strand entlang.
Clerfayt dachte zum ersten Male wieder an Lillian, als er anhielt, um Reifen zu wechseln. Er sah die Tribünen verschwommen, wie einen bunten Blumenkasten; das Röhren des Motors schien zu ersterben, und in der Stille, die keine war, aber ihm so vorkam, hatte er das Gefühl, als wäre er vorher hochgeworfen worden aus dem Krater des Berges in einem Ausbruch und schwebe nun, ikarusgleich, mit weiten Asbest-Schwingen zur Erde hernieder, in die wartenden Arme eines endlosen Gefühls, das weiter als Liebe war und irgendwo auf der Tribüne sich personifiziert hatte in einer Frau, einem Namen und einem Mund.
»Los!« schrie der Rennleiter.
Der Wagen raste weiter; aber Clerfayt fuhr plötzlich nicht mehr allein. Wie der Schatten eines hochfliegenden Flamingos flog jetzt das Gefühl mit ihm, manchmal hinter ihm wie ein Wind und manchmal vor ihm wie eine durchsichtige Fahne, aber immer dicht bei ihm.
* * *
In der nächsten Runde fing der Wagen an zu tanzen. Clerfayt fing ihn ab, aber die Hinterräder rutschten ihm wieder weg, er steuerte dagegen, eine Kurve tauchte auf, besetzt von Menschen wie der Kuchen eines Landbäckers von Fliegen, der Wagen war immer noch ohne Kontrolle, er rutschte und schlug, Clerfayt schaltete auf der kurzen Strecke, die ihm noch blieb bis zur Kurve, er gab Gas, aber der Wagen riß seine Arme herum, er spürte einen Riß in der Schulter, die Kurve wuchs riesenhaft in den glänzenden Himmel, die Menschen verdreifachten sich, sie wuchsen auch, sie wurden zu Riesen, es schien unmöglich, ihnen auszuweichen, Schwärze stürzte vom Himmel, er biss in irgend etwas, jemand schien seinen Arm auszureißen, aber er hielt fest, heiße Lava schoß in die Schulter, in der stürzenden Landschaft war nur noch ein Stück Blau scharf, blendend, er hielt es mit den Augen, während der Wagen unter ihm bockte, und dann sah er die Öffnung, die einzige, in der es nicht von gigantischen zweibeinigen Fliegen krabbelte, er riß noch einmal das Steuer herum, trat auf den Gashebel und — Wunder, der Wagen folgte ihm, schoß durch die Lücke, den Hang hinauf, fing sich zwischen Buschwerk und Steinen, der zerfetzte obere Teil des Hinterreifens knallte wie eine Peitsche, und der Wagen stand.
Er sah die Menschen auf sich zukommen. Sie waren auseinandergespritzt wie Wasser, in das ein Stein schlägt — jetzt kamen sie schreiend, mit verzerrten Gesichtern zurück, die Arme ausgestreckt, die Fäuste schüttelnd, mit den offenen, schwarzen Löchern der Münder. Er wußte nicht, ob sie ihn töten oder ihm gratulieren wollten, es war ihm im Augenblick auch egal, nur das eine war nicht egal: Sie durften den Wagen nicht berühren, ihm nicht helfen, sonst war er disqualifiziert. »Weg! Nicht anfassen!« schrie er, stand auf, spürte wieder den Schmerz, fühlte Wärme, sah Blut, das aus der Nase auf seinen blauen Overall tropfte, konnte nur einen Arm heben, drohte, wehrte ab: »Nicht anfassen! Nicht helfen!«, taumelte aus dem Wagen, stand vor dem Kühler: »Nicht helfen! Verboten!«
Sie blieben stehen. Sie sahen, daß er gehen konnte. Das Blut war ungefährlich; er war nur mit dem Gesicht aufgeschlagen. Er rannte um den Wagen. Er sah den Reifen an. Der äußere Teil hatte sich gelöst. Er fluchte. So etwas bei einem neuen Reifen! Rasch zerschnitt er den Gummistreifen und riß ihn herunter, dann fühlte er den Reifen ab. Er hatte noch Luft, etwas zu wenig, schien ihm aber genug, um die Stöße der Straße aufzufangen, wenn er nicht zu schnell in die Kurven ging. Die Schulter war nicht gebrochen, der Arm war nur verstaucht. Er mußte versuchen, mit dem rechten Arm weiterzufahren. Er mußte das Depot erreichen; dort war Torriani, um ihn abzulösen, und dort waren die Monteure und ein Arzt.
»Weg von der Straße!« schrie er. »Wagen kommen!«
Er brauchte nichts mehr zu sagen. Das Singen des nächsten Wagens kam hinter den Hängen heran, steigerte sich, die Menschen krochen den Abhang hinauf, das Heulen füllte die Welt aus, die Reifen schrien, der Wagen schoß wie ein Projektil niedrig, eine Staubbombe, um die Kurve.
Clerfayt saß wieder in seinem Wagen. Das Geheul des anderen Wagens war besser als jede Spritze gewesen.
»Weg!« schrie er. »Ich komme!«
Der Wagen glitt rückwärts, der Motor sprang an, als er das Steuer herumriss und den Wagen nach vorn lenkte. Er kuppelte aus, schaltete, griff wieder ins Steuerrad, kam auf die Straße, hielt fest, fuhr langsam, dachte nur das eine: Der Wagen muß zum Depot kommen, es ist nicht mehr weit, bis die gerade Strecke beginnt, von da an kann ich ihn halten, es sind nicht mehr viele Kurven.
Der nächste Wagen brüllte heran, hinter ihm. Clerfayt hielt die Straße, so lange er konnte. Er biss die Zähne zusammen, er wußte, daß er den andern behinderte, er wußte, daß es verboten war, daß es unanständig war, aber er konnte sich nicht helfen, er hielt die Mitte der Straße, bis der Wagen hinter ihm rechts in der Kurve überholte. Der Fahrer, staubweiß hinter der Brille, hob die Hand, als er vorbei war. Er hatte Clerfayts blutiges Gesicht und den Reifen gesehen. Einen Augenblick spürte Clerfayt eine Welle von Kameradschaft; dann hörte er den nächsten Wagen hinter sich, und die Kameradschaft verwandelte sich in Wut, in eine Wut, die die schlimmste von allen war: ohne Grund und hilflos.
Das kommt davon, dachte etwas in ihm, ich hätte aufpassen sollen, anstatt zu träumen! Autofahren ist nur für Dilettanten eine romantische Angelegenheit, es gibt nur den Wagen und den Fahrer, und alles Dritte dazwischen ist Gefahr, oder es bringt Gefahr — zur Hölle mit allen Flamingos, zum Teufel mit allen Gefühlen, ich hätte den Wagen halten können, ich hätte die Kurven weicher schneiden sollen, ich hätte die Reifen schonen müssen, jetzt ist es zu spät, ich verliere zu viel Zeit, da ist schon wieder so ein verdammter Kasten, der mich überholt, und da kommt auch der nächste, die gerade Strecke ist mein Feind, sie schwärmen wie Hornissen, und ich muß sie vorbeilassen, zum Teufel mit Lillian, was hat sie hier zu tun, und zum Teufel mit mir, was habe ich mit ihr zu tun?
* * *
Lillian saß auf der Tribüne. Sie spürte die Hypnose der eng zusammengepressten Menschenreihen und versuchte sich dagegen zu wehren; aber es war unmöglich, sich ihr zu entziehen. Der Lärm der vielen Motoren war betäubend wie eine tausendfache Anästhesie, die von den Ohren her das Gehirn gleichzeitig lähmte und gleichschaltete und es dem Massenfieber preisgab.
Nach einiger Zeit gewöhnte sie sich, und plötzlich kam ein Rückschlag. Der Lärm schien sich von dem zu trennen, was unten vorging. Er hing selbständig über der Landschaft, während unter ihm die kleinen bunten Wagen vorüberhuschten. Es war wie ein Kinderspiel; kleine Menschen in weißen und farbigen Overalls rollten Räder und Wagenheber umher, Rennleiter hielten Flaggen und Schilder wie Biskuits hoch, und dazwischen kam die künstliche Stimme des Ansagers aus dem Lautsprecher, die Zeiten in Minuten und Sekunden angab, die erst allmählich einen Sinn bekamen. Ein Pferderennen war ähnlich; ein Stierkampf auch — die Gefahr wurde durch die Freiwilligkeit zum Spiel und zum Spielzeug, dem man den Ernst nicht recht glaubte, wenn man nicht unmittelbar dabei war.
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