Sind es dieselben? dachte sie. Dort sitzt mein Geliebter mit dem melancholischen Mann, der für kurze Zeit auf Erden der Besitzer dieses traumhaften Gartens ist, und ich sehe, daß sie von mir sprechen. Es ist der melancholische Mann, der spricht, und er wird dasselbe wissen wollen, was er mich gefragt hat. Das Geheimnis! Gibt es nicht ein altes Märchen, in dem ein Zwerg heimlich lacht, weil keiner sein Geheimnis kennt? Seinen Namen?
Sie lächelte. »Woran denken Sie?« fragte Fiola, der es bemerkte.
»An ein Märchen, in dem das Geheimnis eines Menschen darin bestand, daß niemand seinen Namen wußte.«
Fiola zeigte seine Zähne. Sie schienen doppelt so weiß in seinem tiefbraunen Gesicht zu sein als bei den andern. »Ist das nicht auch Ihr Geheimnis?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Was ist schon ein Name?« Fiola blickte auf die Reihe der Mütter, die unter Palmen einen Teil der Tanzfläche umsäumten. »Für manche Leute alles«, sagte er.
Sie sah im Vorrübertanzen, daß Clerfayt sie nachdenklich anschaute. Er hält mich fest, und ich liebe ihn, dachte sie, weil er da ist und nicht fragt. Wann wird er zu fragen beginnen? Ich hoffe nie. Vielleicht nie. Wir werden keine Zeit dazu haben. »Sie lächeln, als ob Sie sehr glücklich wären«, sagte Fiola. »Ist das Ihr Geheimnis?«
Wie töricht auch er fragt, dachte Lillian. Warum hat er nicht bereits in der Schule gelernt, daß man Frauen nie fragen soll, ob sie glücklich seien.
»Was ist Ihr Geheimnis?« fragte Fiola. »Eine große Zukunft?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Keine«, sagte sie heiter. »Sie wissen nicht, wie leicht das vieles machen kann.«
»Sehen Sie Fiola an«, sagte die alte Contessa Vitelleschi in der Ecke der Mütter. »Er benimmt sich, als ob es außer dieser Fremden keine jungen Frauen hier gäbe.«
»Das ist ziemlich natürlich«, erwiderte Teresa Marchetti. »Wenn er so oft mit einer unserer Frauen tanzte, wäre er schon halb verlobt, und ihre Brüder würden es als Beleidigung betrachten, heiratete er sie nicht.«
Die Vitelleschi starrte durch ihr Lorgnon auf Lillian.
»Woher kommt diese Person?«
»Nicht aus Italien.«
»Das sehe ich. Wahrscheinlich irgendeine Kreuzung —«
»So wie ich«, sagte Teresa Marchetti spitz, »amerikanisch, indianisch, spanisch — aber willkommen genug, um Ugo Marchetti mit Papas Dollars auszuhelfen, seinen klapprigen Palazzo von Ratten zu befreien, Badezimmer einzubauen und seine Mätressen in Stil auszuhalten.«
Die Contessa Vitelleschi tat, als hätte sie nichts gehört. »Sie haben leicht reden. Sie haben einen Sohn und ein Bankkonto. Ich habe vier Töchter und Schulden. Fiola sollte heiraten. Wohin soll das führen, wenn die paar wohlhabenden Junggesellen, die wir noch haben, englische Mannequins heiraten, wie das jetzt Mode geworden ist. Das Land wird ausgeraubt.«
»Es sollte ein Gesetz dagegen erlassen werden«, sagte Teresa Marchetti ironisch. »Auch dagegen, daß die mittellosen jüngeren Brüder reiche Amerikanerinnen heiraten, die nicht wissen, daß sie, nach der stürmischen Cour vor der Ehe, nachher in einen mittelalterlichen Einzelharem verbannt werden: die italienische Ehe.«
Die Contessa hörte wiederum nicht zu. Sie dirigierte zwei ihrer Töchter. Fiola hatte an einem der aufgestellten Tische haltgemacht. Lillian verabschiedete ihn und ließ sich von Torriani zu Clerfayt bringen.
»Warum tanzt du nicht mit mir?« fragte sie Clerfayt.
»Ich tanze mit dir«, erwiderte er, »ohne aufzustehen.«
Torriani lachte. »Er tanzt nicht gern. Er ist eitel.«
»Das ist wahr«, sagte Clerfayt. »Ich tanze miserabel, Lillian. Du solltest das noch von der Palace Bar her wissen.«
»Das habe ich längst vergessen.«
Sie ging mit Torriani zur Tanzfläche zurück. Levalli setzte sich wieder zu Clerfayt. »Eine dunkle Flamme«, sagte er. »Oder ein Dolch. Finden Sie nicht diese erleuchteten Glasplatten wirklich geschmacklos?« fuhr er nach einer Weile heftig fort. »Der Mond ist hell genug. Luigi!« rief er, »lösche das Licht unter der Tanzfläche. Und bring von dem alten Grappa. — Sie macht mich traurig«, sagte er plötzlich zu Clerfayt, und sein Gesicht schien trostlos im Dunkel, mit tiefen Höhlen. »Schönheit bei einer Frau macht mich traurig. Warum?«
»Weil man weiß, daß sie vergehen wird, und möchte, daß sie bleibt.«
»Ist das so einfach?«
»Das weiß ich nicht. Mir genügt es.«
»Macht es sie auch traurig?«
»Nein«, sagte Clerfayt. »Es gibt ganz andere Dinge, die mich traurig machen.«
»Ich verstehe.« Levalli trank von seinem Grappa.
»Ich kenne sie auch. Aber ich laufe davor weg. Ich will eine dicker Pierrot bleiben. Versuchen Sie diesen Grappa.«
Sie tranken und schwiegen. Lillian kam wieder bei ihnen vorbei. Ich habe keine Zukunft, dachte sie. Das ist fast wie keine Schwerkraft zu haben. Sie sah Clerfayt an und formte einen lautlosen Satz mit den Lippen. Clerfayt saß jetzt im Dunkeln. Sie konnte sein Gesicht kaum erkennen. Es schien auch nicht nötig zu sein. Dem Leben brauchte man nicht ins Gesicht zu sehen. Man brauchte es nur zu fühlen.
»Wo liege ich?« fragte Clerfayt durch den Lärm, als er am Lager hielt.
»An siebter Stelle«, schrie Torriani. »Wie ist die Straße?«
»Zum Kotzen! Frisst Gummi in der Hitze, als wäre es Kaviar. Hast du Lillian gesehen?«
»Ja. Sie ist auf der Tribüne.«
Torriani hielt Clerfayt einen Krug mit Zitronenlimonade an den Mund. Der Rennleiter kam heran. »Fertig?« rief er. »Los! Los!«
»Wir können nicht hexen«, schrie der Chefmonteur.
»Räder wechseln in dreißig Sekunden kann nicht mal der Teufel!«
»Los! Macht schon!«
Das Benzin schoß in den Tank. »Clerfayt«, sagte der Rennleiter. »Duval liegt vor Ihnen. Hetzen Sie ihn! Hetzen Sie ihn, bis er kocht! Dann halten Sie ihn hinter sich. Mehr brauchen wir nicht. Wir halten die beiden Plätze vor ihm.«
»Los! Fertig!« schrie der Chefmonteur.
Der Wagen sauste ab. Vorsicht, dachte Clerfayt, nicht überdrehen! Die Tribünen waren etwas Buntes und Weißes und Blitzendes, dann war nur noch die Straße da, der grellblaue Himmel und der Punkt am Horizont, der Staub und Duval und sein Wagen werden mußte.
Die Strecke stieg an auf vierhundert Meter. Das Gebirgsmassiv der Madonie kam heran. Zitronenwälder, das Silberflirren der Olivenhaine, Kurven, Serpentinen, Haarnadelkurven, fliegender Schotter, der heiße Atem des Motors, ein Insekt, das wie ein Geschoß gegen die Brille prallte, Kaktushecken, auf- und absteigende Kehren, Felsen, Schutt, Kilometer hinter Kilometer, dann grau und braun die alte Festungsstadt Caltavuturo, Staub, mehr Staub, und plötzlich ein spinnenartiges Insekt: ein Wagen.
Clerfayt war schneller in den Kurven. Er kam langsam heran. Zehn Minuten später erkannte er den Wagen; es mußte Duval sein. Clerfayt hing hinter ihm, aber Duval gab die Straße nicht frei. Er blockierte Clerfayt bei jedem Versuch, ihn zu überholen. Es war ausgeschlossen, daß er ihn nicht gesehen hatte. Zweimal waren die Wagen in einer sehr engen Kurve so gefahren, daß die Fahrer einander ins Gesicht sehen konnten, Duval hinter und Clerfayt vor der Kurve. Duval behinderte Clerfayt absichtlich.
Die Wagen jagten dicht hintereinander her. Clerfayt lauerte im Staub, bis die Straße in weitem Bogen anstieg und die Fernsicht freigab. Er wußte, daß dort eine breite Kurve kam; Duval fuhr sie weit nach außen, um es Clerfayt unmöglich zu machen, ihn rechts zu überholen und um sie von der Mitte zu schneiden. Clerfayt hatte damit gerechnet; er schnitt die Kurve scharf vor Duval, schoß innen an ihm vorbei, der Wagen rutschte, er fing ihn, der überraschte Duval wurde für eine Sekunde langsamer, und Clerfayt war vorbei. Der Staub war jetzt hinter ihm, er sah plötzlich den Ätna mit seiner hellen Rauchwolke majestätisch vor dem kochenden Himmel, und sie rasten weiter. Clerfayt voran, aufwärts nach Polizzi, dem höchsten Punkt der Strecke.
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