»Aus Zufall. Es ist der beste Grund, den ich kenne.«
»Sie sollten an der Place Vendфme wohnen.«
»Es ist erstaunlich«, sagte Lillian, »wie viele Leute besser wissen, wo ich wohnen sollte, als ich selbst.«
»Ich besitze eine Wohnung an der Place Vendфme, die ich nie benütze. Ein Atelier, das modern eingerichtet ist.«
»Wollen Sie es mir vermieten?«
»Warum nicht?«
»Was kostet es?«
Peystre rückte sich zurecht. »Wozu über Geld reden? Sehen Sie es sich doch erst einmal an. Sie können es haben, wenn Sie wollen.«
»Ohne irgendwelche Bedingungen?«
»Ohne die geringsten. Es würde mir natürlich Vergnügen machen, wenn Sie gelegentlich einmal mit mir essen gingen — aber auch das ist keine Bedingung.«
Lillian lachte. »Es gibt noch uneigennützige Menschen.«
»Wann wollen Sie es ansehen? Morgen? Kann ich Sie mittags zum Essen abholen?«
Lillian betrachtete den schmalen Kopf mit der weißen Schnurrbartbürste. »Mein Onkel wollte mich eigentlich verheiraten«, sagte sie.
»Dazu haben Sie noch viel Zeit. Ihr Onkel hat altmodische Ansichten.«
»Ist die Wohnung groß genug für zwei?«
»Ich glaube schon. Warum?«
»Für den Fall, daß ich mit meinem Freund dort leben möchte.«
Peystre betrachtete sie einen Augenblick. »Auch darüber wäre vielleicht zu reden«, sagte er dann, »obschon sie, offen gesagt, dazu etwas beschränkt wäre. Warum wollen Sie nicht eine Zeitlang allein leben? Sie sind erst ein paar Wochen in Paris. Sehen Sie sich doch die Stadt erst einmal gründlich an. Sie bietet viele Möglichkeiten.«
»Sie haben recht.«
Der Wagen hielt, und Lillian stieg aus. »Also wann, morgen?« fragte der Vicomte.
»Ich werde es mir überlegen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Onkel Gaston frage?«
»Das würde ich nicht tun. Es würde ihm unnütze Gedanken machen. Sie werden es auch nicht tun.«
»Nein?«
»Wer vorher fragt, tut es nie. Sie sind sehr schön und sehr jung, Mademoiselle. Es wäre ein Vergnügen, Ihnen den Rahmen zu geben, den Sie nötig haben. Und glauben Sie einem Manne, der nicht mehr jung ist: dies hier ist reizend, aber verlorene Zeit für Sie. Über Onkel Gaston brauchen wir nicht zu reden. Was Sie brauchen ist Luxus. Großen Luxus. Verzeihen Sie dies Kompliment; aber ich habe gute Augen. Gute Nacht, Mademoiselle.«
* * *
Sie stieg die Treppe hinauf. Die Heiratsgalerie Onkel Gastons hatte sie in einer makabren Weise belustigt und deprimiert. Sie war sich anfangs vorgekommen wie ein sterbender Soldat, dem jemand Geschichten von einem opulenten Leben erzählt. Dann hatte sie geglaubt, auf einem fremden Planeten zu sein, auf dem die Leute ewig lebten und entsprechende Probleme hatten. Sie hatte nicht verstanden, wovon sie redeten. Das, was ihr gleichgültig war, war für sie von höchster Bedeutung — und das, was sie suchte, war für die andern von einem merkwürdigen Tabu umgeben. Das Angebot des Vicomte de Peystre erschien ihr von allem noch das Vernünftigste.
»Hat Onkel Gaston sich Mühe gegeben?« fragt Clerfayt vom Korridor her.
»Du bist schon hier? Ich dachte, du wärst irgendwo trinken!«
»Ich habe keine Lust mehr dazu.«
»Hast du auf mich gewartet?«
»Ja«, sagte Clerfayt. »Du machst mich zu einem ordentlichen Menschen. Ich will nicht mehr trinken. Nicht mehr ohne dich.«
»Hast du früher getrunken?«
»Ja. Zwischen den Rennen. Und oft zwischen den Katastrophen. Aus Feigheit, glaube ich. Oder um vor mir selbst davonzulaufen. Das ist vorbei. Ich war heute Mittag in der Sainte-Chapelle. Morgen gehe ich ins Cluny-Museum. Jemand, der uns zusammen gesehen hat, behauptet, du sähest aus wie die Dame auf den Teppichen mit dem Einhorn, die dort hängen. Du hast sehr viel Erfolg. Willst du noch ausgehen?«
»Heute abend nicht.«
»Heute abend warst du bei der Bürgerlichkeit zu Gast, die glaubt, das Leben wäre eine Küche, ein Salon und ein Schlafzimmer und nicht ein Segelboot mit viel zu vielen Segeln, das alle Augenblicke umschlagen kann. Du muß dich davon erholen.«
Lillians Augen begannen zu glänzen. »Hast du doch getrunken?«
»Das brauche ich nicht mit dir. Möchtest du nicht noch etwas herumfahren?«
»Wohin?«
»In jede Straße und in jedes Lokal, von denen du jemals gehört hast. Du bist herrlich angezogen — es war verschwendet an Onkel Gastons Bewerber. Wir müssen zum mindesten dieses Kleid ausführen — selbst wenn du nicht willst. Man hat Kleidern gegenüber Verpflichtungen.«
»Gut. Lass uns langsam fahren. Durch viele Straßen. Alle ohne Schnee. Mit Blumenverkäuferinnen an den Ecken. Lass uns einen Wagen voll Veilchen mitnehmen.«
Clerfayt holte Giuseppe aus dem Gewirr am Quai und wartete vor der Tür des Hotels. Das Restaurant nebenan begann zu schließen.
»Der schmachtende Liebhaber«, sagte jemand neben ihm. »Bist du nicht zu alt für solche Rollen?«
Es war Lydia Morelli. Sie war vor ihrem Begleiter aus dem Restaurant auf die Straße getreten.
»Unbedingt«, erwiderte er. »Das ist gerade der Reiz!«
Lydia warf das Ende einer weißen Pelzstola über ihre Schulter. »Eine neue Rolle! Ziemlich provinziell, mein Lieber. Mit einem jungen Gänschen!«
»Welch ein Kompliment«, erwiderte Clerfayt. »Wenn du so etwas sagst, heißt das, das sie faszinierend sein muß.«
»Faszinierend! Dies dumme Ding mit ihrem Zimmerchen hier und ihren drei Balenciaga-Kleidern!«
»Drei? Ich dachte, sie hätte dreißig. So verschieden sind sie jedes Mal, wenn sie sie trägt.« Clerfayt lachte. »Lydia! Seit wann spionierst du wie ein Detektiv nach Gänschen und dummen Dingern? Hatten wir uns das nicht längst abgewöhnt?«
Lydia wollte ärgerlich werden; aber ihr Begleiter kam aus der Tür. Sie nahm seinen Arm wie eine Waffe und ging an Clerfayt vorbei.
Lillian kam ein paar Minuten später. »Soeben hat mir jemand erzählt, daß du eine faszinierende Person wärest«, sagte Clerfayt. »Es wird Zeit, dich zu verstecken.«
»War es langweilig zu warten?«
»Nein. Wenn man lange auf nichts gewartet hat, macht Warten einen zehn Jahre jünger. Zwanzig Jahre jünger. Ich glaubte, ich würde nie mehr auf etwas warten.«
»Ich habe immer auf etwas gewartet.« Lillian sah einer Frau in cremefarbenen Spitzen nach, die mit einem Kahlkopf das Restaurant verließ; sie trug eine Kette aus nußgroßen Diamanten. »Wie das blitzt!« sagte sie.
Clerfayt erwiderte nichts. Schmuck war ein gefährliches Gebiet; wenn sie darauf verfiel, gab es Leute, die besser als er befähigt waren, ihre Wünsche zu erfüllen.
»Nicht für mich«, sagte Lillian lachend, als hätte sie seine Gedanken erraten.
»Ist das ein neues Kleid?« fragte er.
»Ja. Es ist heute gekommen.«
»Wieviel hast du jetzt?«
»Acht mit diesem. Warum?«
Lydia Morelli schien richtig informiert zu sein. Daß sie drei gesagt hatte, gehörte dazu.
»Onkel Gaston ist entsetzt«, sagte Lillian. »Ich habe ihm die Rechnungen geschickt. Und nun lass uns in den besten Nachtklub fahren, den es gibt. Du hast recht, Kleider machen Ansprüche!«
* * *
»Noch in einen anderen?« fragte Clerfayt. Es war vier Uhr nachts.
»Noch in einen«, sagte Lillian. »Oder bist du müde?«
Er wußte, daß er sie nicht fragen konnte, ob sie müde sei. »Noch nicht«, sagte er. »Gefällt es dir?«
»Es ist wunderbar.«
»Gut, dann fahren wir in einen anderen Klub. Einen mit Zigeunern.«
Montmartre und Montparnasse bebten noch im späten Nachkriegsfieber. Die bunten Höhlen der Kabaretts und Nachtklubs schwammen im Nebel als wären sie unter Wasser. Es war alles die übliche, endlose Wiederholung, das Klischee, und Clerfayt hätte sich ohne Lillian fürchterlich gelangweilt — aber für sie war es neu, sie empfand es nicht so, wie es war oder wie es wirkte, sondern so, wie sie es sehen wollte und sah. Aus den Nepplokalen wurden für sie Feuer des Lebens, aus Orchestern, die auf Trinkgelder warteten, wurden Konzerte für Träume, und aus Räumen, die voll gestopft waren mit Gigolos, Neureichen, zweifelhaften, törichten Frauen und Menschen, die nicht nach Hause gingen, weil sie nicht wußten, was sie dort tun sollten oder die auf ein Abenteuer oder ein Geschäft rechneten, wurde das funkelnde Bacchanal des Daseins, weil sie es so wollte und weil sie deswegen gekommen war.
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