Lillian lag tagsüber am Meer oder im Garten, der Levallis Villa umgab. Der Garten war verwildert, romantisch und voll von Marmorstatuen wie ein Gedicht Eichendorffs. Lillian hatte nie den Wunsch, Clerfayt fahren zu sehen; aber sie liebte das leise Grollen der Motoren, das bis in die Stille der Orangenhaine drang. Der Wind brachte es herüber, zusammen mit dem schweren Duft der Blüten; es vereinigte sich mit dem Rauschen des Meeres zu einem aufregenden Konzert. Lillian spürte es, als ob Clerfayt zu ihr spräche. Es hing den ganzen Tag unsichtbar über ihr; sie überließ sich ihm, so wie sie sich dem heißen sizilianischen Himmel und dem weißen Glanz des Meeres überließ. Clerfayt war immer da; — ob sie im Schatten eines Götterbildes unter den Pinien schlief oder auf einer Bank saß und Petrarca las oder die Bekenntnisse des Augustinus, — ob sie am Meere hockte ohne einen Gedanken in der Welt oder auf der Terrasse saß in der rätselhaften Stunde vor dem Zwielicht, wenn die Italienerinnen bereits felicissima notte sagen und hinter jedem Wort das Fragezeichen eines unbekannten Gottes zu stehen scheint — das ferne Rollen war immer da, die Trommel des Himmels und des Abends, und es fand immer eine Resonanz in ihrem Blut, das leise bebte und antwortete. Abends kam Clerfayt dann, begleitet von dem Grollen, das anstieg zum Donner, wenn der Wagen heranfuhr. »Wie die Götter der Antike«, sagte Levalli zu Lillian. »Unsere modernen Condottieri erscheinen mit Donner und Blitz, als wären sie Söhne Jupiters.«
»Sie lieben es nicht?«
»Ich mag keine Motoren mehr. Sie erinnern mich zu sehr an den Lärm der Bombenflugzeuge im Kriege.« Der sensitive, beleibte Mann legte ein Klavierkonzert von Chopin auf das Grammophon. Lillian sah ihn nachdenklich an. Merkwürdig, dachte sie, wie einseitig man immer nur an seine eigene Erfahrung und die eigene Gefahr gebunden ist: Ob dieser Ästhet und Kunstkenner je darüber nachdenkt, was die Thunfische empfinden, wenn seine Flotte sie abschlachtet? Levalli gab einige Tage später ein Fest. Er hatte ungefähr hundert Gäste dazu eingeladen. Kerzen und Windlichter brannten, die Nacht war sternenklar und warm und das Meer glatt und ein mächtiger Spiegel für den riesigen Mond, der tief und rot am Horizont schwebte wie ein Ballon von einem anderen Planeten. Lillian war entzückt. »Gefällt es Ihnen?« fragte Levalli.
»Es ist alles, was ich mir gewünscht habe.«
»Alles?«
»Nahezu alles. Ich habe vier Jahre davon geträumt, wenn ich in den Bergen zwischen Schneewänden gefangen saß. Es ist völlig das Gegenteil von Schnee — und völlig das Gegenteil von Bergen —«
»Das freut mich«, sagte Levalli. »Ich gebe nur noch selten Feste.«
»Warum? Weil es sonst zur Gewohnheit würde?«
»Nein. Es macht mich — wie soll ich sagen — melancholisch. Meistens will man etwas vergessen, wenn man Feste gibt — aber man vergisst es nicht. Auch die anderen vergessen es nicht.«
»Ich will nichts vergessen.«
»Nein?« fragte Levalli höflich.
»Nicht mehr«, erwiderte Lillian.
Levalli lächelte. »An dieser Stelle soll eine alte Römervilla gestanden haben, und es soll große Feste gegeben haben mit schönen Römerinnen und Fackeln und dem Leuchten des Feuer speienden Ätna. Glauben Sie, daß die alten Römer dem Geheimnis näher gekommen sind?«
»Welchem?«
»Dem, warum wir leben?«
»Leben wir?«
»Vielleicht nicht, weil wir fragen. Verzeihen Sie, daß ich darüber rede. Italiener sind melancholische Menschen; sie sehen aus wie das Gegenteil, aber sie sind es nicht.«
»Wer ist es?« sagte Lillian. »Nicht einmal Stallknechte sind dauernd vergnügt.«
Sie hörte den Wagen Clerfayts kommen und lächelte. »Man erzählt«, sagte Levalli, »daß die letzte römische Besitzerin dieser Villa ihre Liebhaber morgens töten ließ. Sie war eine Romantikerin und konnte die Entzauberung nach der Illusion der Nacht nicht ertragen.«
»Wie umständlich«, erwiderte Lillian. »Konnte sie sie nicht einfach vor dem Morgengrauen wegschicken? Oder selbst weggehen?«
Levalli bot ihr seinen Arm. »Weggehen ist nicht immer das einfachste — wenn man sich selbst mitnimmt.«
»Es ist immer das einfachste, wenn man weiß, daß Besitzenwollen einen nur limitiert — und daß man nichts halten kann; nicht einmal sich selbst —«
Sie gingen der Musik entgegen. »Sie wollen nichts besitzen?« fragte Levalli.
»Ich will zuviel besitzen«, erwiderte Lillian. »Deshalb nichts. Es ist fast dasselbe.«
»Fast!« Er küßte ihre Hand. »Ich bringe Sie jetzt nach drüben, wo die Zypressen stehen. Wir haben hinter ihnen einen gläsernen Boden zum Tanzen angelegt, der von innen erleuchtet ist. Ich habe das in Gartenlokalen an der Riviera gesehen und nachgemacht. Und da kommen auch Ihre Tänzer — halb Neapel, Palermo und Rom.«
»Man kann Zuschauer sein oder mitspielen«, sagte Levalli zu Clerfayt. »Oder beides. Ich ziehe vor, Zuschauer zu sein. Wer beides tut, tut beides unvollkommen.«
Sie saßen auf der Terrasse und sahen die Frauen vor den Zypressen auf dem leuchtenden Glasparkett tanzen. Lillian tanzte mit dem Prinzen Fiola.
»Eine Flamme«, sagte Levalli zu Clerfayt. »Sehen Sie nur, wie sie tanzt! Kennen Sie die Frauen der pompejanischen Mosaiken? Die Schönheit der Frauen in der Kunst ist, daß das Zufällige verloren gegangen und die Schönheit allein geblieben ist. Haben Sie die Bilder aus dem minoischen Palast in Kreta gesehen? Die Ägypterinnen aus der Zeit Echnatons? Die Frauen mit den langen Augen und den schmalen Gesichtern, die verderbten Tänzerinnen und die jungen Königinnen? In ihnen allen brennt die Flamme. Sehen Sie diese Tanzfläche an! Auf dem sanften künstlichen Feuer der Hölle, das aus Glas, Elektrizität und Technik dort angezündet ist, scheinen die Frauen zu schweben, — deshalb habe ich es einrichten lassen. Das Licht der künstlichen Hölle von unten, das unter den Kleidern zu brennen und an den Kleidern hochzuzüngeln scheint, und das kalte Licht des Mondes, das mit dem der Sterne auf ihren Schläfen und Schultern liegt, ist eine Allegorie, über die man lachen oder ein paar Minuten träumen kann. Sie sind schön, diese Frauen, die uns davon abhalten. Halbgötter zu werden, indem sie uns zu Familienvätern, Bürgern, Verdienern machen, nachdem sie uns durch die Illusion, uns zu Göttern zu machen, eingefangen haben. Sind sie nicht schön?«
»Sie sind schön, Levalli.«
»In jeder steckt bereits Circe. Die Ironie ist, daß sie es nie selbst glauben. Sie haben noch die Flamme ihrer Jugend, während sie dort tanzen, aber hinter ihnen tanzt, fast unsichtbar, bereits der Schatten der Bürgerlichkeit mit, mit den zwanzig Pfund Gewicht, die sie zunehmen werden, der Langeweile der Familie, dem Ehrgeiz begrenzter Wünsche und Ziele, dem Müdewerden, und dem Sich-zur-Ruhe-setzen, der ewigen Wiederholung, dem langsamen Verschleiß. Nur in der einen nicht, die dort mit Fiola tanzt, in der, die Sie hergebracht haben. Wie haben Sie das gemacht?«
Clerfayt zuckte die Achseln.
»Wo haben Sie sie gefunden?«
Clerfayt zögerte. »Um in Ihrem Stil zu bleiben, Levalli — vor den Toren des Hades. Es ist das erste Mal in Jahren, daß Sie so lyrisch sind.«
»Man hat nicht oft Gelegenheit dazu. Vor den Toren des Hades. Ich will Sie nicht weiter fragen. Es ist genug, um die Phantasie blühen zu lassen. In dem grauen Zwielicht der Hoffnungslosigkeit, dem nur Orpheus entrann. Aber selbst er mußte den Preis zahlen: doppelte Einsamkeit — so paradox das auch klingt — weil er eine Frau aus dem Hades zurückholen wollte. Sind Sie bereit, zu zahlen, Clerfayt?«
Clerfayt lächelte. »Ich bin abergläubisch. Antworten auf solche Fragen gebe ich nicht kurz vor einem Rennen.«
* * *
Es ist die Nacht Obérons, dachte Lillian, während sie mit Fiola und Torriani tanzte. Alles ist verzaubert mit vielem Licht, mit blauen Schatten, mit Leben und Unwirklichkeit zur gleichen Zeit. Man hört keine Schritte; man hört nur Gleiten und Musik. Dies habe ich mir gedacht, als ich im Schnee in meinem Zimmer, mit der Fieberkarte am Bett, saß und auf die Konzerte des Radios in Neapel und Paris lauschte. Es ist, als ob man nicht sterben könnte in solch einer Nacht zwischen Mond und Meer und dem sanften Wind mit dem Geruch der Mimosen und Orangenblüten. Man begegnet sich und hält sich eine Weile und verliert sich und findet sich in den Armen eines andern wieder, die Gesichter wechseln, aber die Hände sind dieselben.
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