»Welch ein Platz!« sagte Lillian.
»Ja«, erwiderte Clerfayt. »Hier stand die Guillotine. Drüben hat man Marie Antoinette geköpft. Jetzt springen die Fontänen.«
»Fahr noch zum Rond-Point«, sagte Lillian. »Da sind die andern.«
Clerfayt fuhr die Champs Elysées hinunter. Am Rond-Point gesellte sich dem Gesang und dem weißen Gischt des Wassers noch der Miniatur-Lanzenwald gelber Tulpen hinzu, die wie preußische Soldaten mit den aufgepflanzten Bajonetten ihrer Blüten Stillgestanden übten.
»Ist dir das auch gleichgültig?« fragte Clerfayt.
Lillian mußte sich einen Augenblick besinnen. Sie holte ihre Augen langsam aus dem Plätschern und der Nacht zurück. Er quält sich, dachte sie. Wie leicht das ging!
»Es löscht mich aus«, sagte sie. »Verstehst du das nicht?«
»Nein. Ich will nicht ausgelöscht werden; ich will mich stärker fühlen.«
»Das meine ich. Es ist so viel Hilfe, wenn man nicht widerstrebt.«
Er hätte gern angehalten und sie geküßt; aber er war nicht ganz sicher, was dann geschehen würde. Er fühlte sich merkwürdigerweise irgendwie betrogen und wäre am liebsten mit seinem Wagen in das Beet gelber Tulpen gefahren, um sie zu zerquetschen und alles um sich herum beiseitezustoßen und Lillian an sich zu reißen und mit ihr irgendwohin zu fahren — aber wohin? In eine Höhle, ein Versteck, ein Zimmer — oder immer wieder in die unpersönliche Frage ihrer hellen Augen, die ihn nicht ganz anzusehen schienen?
»Ich liebe dich«, sagte er. »Vergiß alles andere. Vergiß die Frau.«
»Warum? Wozu solltest du nicht jemand haben? Glaubst du, ich wäre all die Zeit allein gewesen?«
Giuseppe machte einen Sprung und gab den Geist auf. Clerfayt startete aufs neue. »Du meinst im Sanatorium?« sagte er.
»Ich meine in Paris.«
Er starrte sie an. Sie lächelte. »Ich kann nicht allein sein. Und nun fahr mich ins Hotel. Ich bin müde.«
»Gut.«
Clerfayt fuhr am Louvre entlang, an der Conciergerie vorbei und über die Brücke des Boulevard St.-Michel. Er war wütend und hilflos. Am liebsten hätte er Lillian verprügelt, aber er war ohnmächtig — sie hatte ihm nur etwas gestanden, was auch er ihr vorher gestanden hatte, und er zweifelte keinen Augenblick daran. Alles, was er jetzt wollte, war, sie wiederzubekommen. Sie war plötzlich das Wichtigste und Begehrenswerteste geworden, was er kannte. Er wußte nicht, was er tun sollte, aber irgend etwas mußte geschehen; er konnte sie nicht einfach abgeben am Eingang des Hotels, sie würde nie wiederkommen, dies war seine letzte Chance, er mußte ein Zauberwort finden, um sie zu halten, sonst würde sie aussteigen und ihn abwesend lächelnd küssen und durch den Hoteleingang verschwinden, der nach Bouillabaisse und Knoblauch roch, die ausgetretene, schiefe Treppe hinauf, vorbei an der kleinen Theke, in der der Hausknecht döste, neben sich ein Stück Lyoner Wurst und eine Flasche Vin ordinaire — sie würde hinaufgehen, und das letzte, was er von ihr sehen würde, würden ihre schmalen, hellen Fesseln im Halbdüster des engen Ganges sein, wie sie dicht nebeneinander die Stufen hinaufstiegen, und oben, in ihrem Zimmer, würden ihr wahrscheinlich plötzlich aus der goldenen Bolerojacke zwei Flügel wachsen, und sie würde durch das Fenster fliegen, rasch, hinaus, nicht zur Sainte-Chapelle, von der sie ihm erzählt hatte, sondern auf einem sehr eleganten Hexenbesen, der vermutlich auch von Balenciaga oder Dior war, direkt zu einer Walpurgisnacht, an der nur Teufel in Fracks teilnahmen, die jeden Geschwindigkeitsrekord gebrochen hatten, sich in sechs Sprachen fließend unterhielten, von Plato bis Heidegger alles kannten und nebenher noch Klaviervirtuosen, Boxweltmeister und Poeten waren.
Der Hausknecht gähnte und erwachte. »Haben sie den Schlüssel zur Küche?« fragte Clerfayt.
»Sehr wohl. Vichy? Champagner? Bier?«
»Holen Sie aus dem Eisschrank eine Büchse Kaviar.«
»Da kann ich nicht ran, mein Herr. Madame hat den Schlüssel.«
»Dann laufen Sie zum Restaurant Lapérouse an der Ecke. Holen Sie dort eine Büchse. Es ist noch offen. Wir warten hier. Ich werden den Dienst hier solange übernehmen.«
Er nahm Geld aus der Tasche. »Ich will keinen Kaviar«, sagte Lillian.
»Was willst du?«
Sie zögerte. »Clerfayt«, erwiderte sie schließlich. »Bis jetzt ist kein Mann um diese Zeit bei mir gewesen. Und das willst du doch nur wissen?«
»Das ist wahr«, mischte sich der Hausknecht ein. »Madame kommt immer allein nach Hause. Ce n'est pas normal, Monsieur. Soll ich Champagner holen? Wir haben noch vierunddreißiger Dom Perignon.«
»Bringen Sie ihn, Sie Goldjunge«, rief Clerfayt. »Was gibt es zu essen?«
»Ich möchte von der Wurst.« Lillian zeigte auf das Nachtessen des Hausknechts.
»Ich gebe Ihnen meine, Madame. In der Küche ist noch genug davon.«
»Bringen Sie die aus der Küche«, sagte Clerfayt. »Mit dunklem Brot und einem Stück Brie.«
»Und eine Flasche Bier«, sagte Lillian.
»Keinen Champagner, Madame?« Das Gesicht des Burschen fiel. Er dachte an seine Prozente.
»Auf jeden Fall den Dom Perignon«, erklärte Clerfayt. »Und wenn er nur für mich ist. Ich will etwas feiern.«
»Was?«
»Den Durchbruch des Gefühls.« Clerfayt nahm in der Loge des Hausknechtes Platz. »Gehen Sie! Ich passe solange auf.«
»Kannst du den Kasten bedienen?« fragte Lillian.
»Natürlich. Ich habe das im Krieg gelernt.«
Sie lehnte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch. »Du hast viel im Krieg gelernt, wie?«
»Das meiste. Es ist ja fast immer Krieg.«
Clerfayt notierte eine Bestellung für eine Flasche Wasser und den Wunsch eines Reisenden, morgens um sechs geweckt zu werden. Er gab einem erstaunten kahlköpfigen Mann den Schlüssel für Zimmer zwölf und zwei jungen Engländerinnen die Schlüssel zu vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Ein ziemlich betrunkener Mann kam von der Straße herein und wollte wissen, ob Lillian frei sei und was sie koste.
»Tausend Dollar«, sagte Clerfayt.
»Das ist keine Frau wert, du Dummkopf«, erwiderte der Mann und verschwand in der plätschernden Nacht am Quai.
Der Hausknecht brachte die Flaschen und die Wurst und erklärte sich noch einmal bereit, zum Tour d'Argent oder zu Lapérouse zu gehen, wenn noch etwas gebraucht würde. Er habe auch ein Fahrrad.
»Morgen«, sagte Clerfayt. »Haben Sie noch ein Zimmer frei?«
Der Bursche sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Aber Madame hat doch ihr Zimmer.«
»Madame ist verheiratet. Mit mir«, fügte Clerfayt hinzu und brachte den Hausknecht in neue Verwirrung, da er jetzt sichtlich nicht mehr wußte, wozu der Dom Perignon bestellt worden war.
»Wir hätten Nummer sechs«, erklärte der Mann. »Neben Madame.«
»Gut. Bringen Sie alles hinauf.«
Der Hausknecht stellte die Sachen ab und erklärte, nachdem er sein Trinkgeld angeschaut hatte, daß er, wenn es nötig sei, die ganze Nacht hindurch überall mit seinem Fahrrad Besorgungen machen könne. Clerfayt schrieb ihm auf einen Zettel, am nächsten Morgen eine Zahnbürste, Seife und einige andere Dinge zu besorgen und vor seine Tür zu legen. Der Mann versprach es und ging. Er kam noch einmal zurück und brachte Eis; dann verschwand er endgültig.
»Ich hätte geglaubt, dich nie wieder zu sehen, hätte ich dich heute abend alleingelassen«, sagte Clerfayt.
Lillian setzte sich auf das Fensterbrett. »Ich denke das jede Nacht.«
»Was?«
»Daß ich alles nie wieder sehen werde.«
Er fühlte einen scharfen Schmerz. Sie sah plötzlich sehr einsam aus mit dem sanften Profil gegen die Nacht — einsam, nicht verlassen. »Ich liebe dich«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es dir etwas hilft, aber es ist wahr.«
Sie antwortete nicht. »Du weißt, daß ich das nicht wegen heute abend sage«, sagte er und ahnte nicht, daß er log. »Vergiß den Abend. Es war ein Zufall, eine Dummheit und viel Verwirrung. Ich wollte dich um alles in der Welt nicht verletzen.«
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