»Ich wollte dich gerade dasselbe über dich fragen. Nach dem Wein hast du geradezu etwas Menschliches bekommen.«
Gaston nippte an seinem Armagnac. »Ich werde eine kleine Gesellschaft für dich geben.«
»Das hast du mir schon einmal angedroht.«
»Kommst du?«
»Nicht, wenn es ein Tee oder eine Cocktailparty ist.«
»Zu einem Diner. Ich habe auch noch ein paar Flaschen Wein — nur ein paar, aber die können es mit diesem hier aufnehmen.«
»Gut.«
»Du bist ein schönes Mädchen geworden, Lilly. Aber hart! Hart! Das war dein Vater nicht.«
Hart, dachte Lillian. Was nennt er hart? Und bin ich es? Oder habe ich nur keine Zeit für den sanften Betrug, der das Katzengold der guten Manieren über unbequeme Wahrheiten wirft und das dann Takt nennt?
* * *
Sie konnte von ihrem Fenster den spitzen Turm der Sainte-Chapelle sehen. Sie stach wie eine Nadel über die grauen Mauern der Conciergerie in den Himmel. Sie erinnerte sich an die Kapelle von früher. Am ersten Tag, als die Sonne voll schien, ging sie hinein.
Es war fast Mittag, und der Raum mit den hohen, bunten Fenstern war vom Licht völlig durchleuchtet, als wäre er ein durchsichtiger Turm von Strahlen. Er schien nur aus Fenstern zu bestehen, voll Madonnenblau und glühendem Rot und Gelb und Grün. Das Leuchten war so stark, daß man die Farben auf der Haut fühlte, als nähme man ein Bad im bunten Licht. Außer Lillian waren nur noch ein paar amerikanische Soldaten da, die bald gingen. Sie saß auf einer Bank, umhüllt von Licht wie vom leichtesten und königlichsten aller Kleider, und sie hätte gewünscht, sich ausziehen zu können und den durchscheinenden Brokat über ihre Haut gleiten zu sehen. Es war ein Sturz von Licht, ein Rausch ohne Schwerkraft, ein Fall und ein Schweben zu gleicher Zeit; sie schien Licht zu atmen, und ihr war, als spiele das Blau und Rot und Gelb in ihren Lungen und in ihrem Blut, als würde die Trennung durch Haut und Bewußtsein aufgehoben, und das Licht flute hindurch, so, wie sie es bei den unsichtbaren Strahlen der Röntgenaufnahmen erlebt hatte, nur daß da das Skelett enthüllt wurde, während es hier die geheimnisvolle Kraft leuchten zu machen schien, die das Herz klopfen und das Blut pulsen ließ. Es war das Leben selbst, und während sie so dasaß, still, ohne sich zu regen, und das Licht auf sich und in sich hineinregnen ließ, gehörte sie ganz dazu und war eins damit, sie war nicht mehr ein isoliertes Einzelnes, sondern das Licht nahm sie auf und schützte sie, und sie hatte plötzlich das mystische Gefühl, daß sie nie sterben könne, solange es sie so hielt, und daß etwas in ihr nie sterben würde — das, was zu diesem magischen Licht gehörte. Es war ein großer Trost, und sie wollte es nie vergessen, und so sollte ihr Leben sein, das, was ihr noch an Tagen gehörte, fühlte sie, so wie dieses hier, ein Bienenkorb, gefüllt mit dem leichtesten Strahlenhonig der Welt — Licht ohne Schatten, Leben ohne Bedauern, Verbrennen ohne Asche —
Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie in der Sainte-Chapelle gewesen war. Ihre Mutter hatte sie hierher gebracht. Es war während der Zeit gewesen, als die Gestapo ihren Vater gesucht hatte. Sie hatten damals tagsüber in Kirchen gelebt, weil ihnen das als das sicherste erschienen war. Lillian hatte so einen großen Teil der Kirchen von Paris kennen gelernt, immer in den dunkelsten Ecken hockend und Gebete vortäuschend. Aber nach einiger Zeit hatte man angefangen auch in die Kirchen Spione zu schicken, und die Dunkelheit von Notre-Dame war nicht mehr sicher gewesen. Da hatten Freunde ihrer Mutter geraten, die Tage in der Sainte-Chapelle zu verbringen; dort wäre ein zuverlässiger Wärter. Lillian war sich damals in dem glühenden Licht wie ein Verbrecher vorgekommen, der aus seinem dunklen Unterschlupf unter das erbarmungslos grelle Licht eines Polizeischeinwerfers gezerrt wird — oder wie eine Aussätzige, die der weißen, suchenden Helle eines Operationsraumes ausgesetzt ist. Sie hatte es gehasst und nie vergessen.
Jetzt war nichts von alldem mehr vorhanden. Die Schatten der Vergangenheit hatten sich im ersten weichen Ansturm des Lichtes wie Nebel aufgelöst. Hass war nicht mehr da; nur Glück. Gegen dieses Licht gab es keinen Widerstand, dachte sie. In ihm schmolz die entsetzliche Fähigkeit des Gedächtnisses, die Erinnerung an Vergangenes nicht einfach als Lehre, sondern als versteinertes Leben in die Gegenwart zu übernehmen und diese damit voll zu stopfen wie ein Zimmer mit unnützen, alten Möbeln, zusammen zu dem, was sie wirklich sein sollte: stärkeres, bewusstes Leben durch Erfahrung. Lillian streckte sich unter dem Licht. Ihr schien, als könne sie es hören. Man könnte so vieles hören, dachte sie, wenn man nur still genug werden könnte. Sie atmete langsam und tief. Sie atmete Gold und Blau und das weinfarbene Rot. Sie fühlte, wie auch das Sanatorium und sein letzter Schatten sich in diesen Farben auflösten; die grauen und schwarzen Gelatineblätter der Röntgenaufnahmen rollten sich zusammen und verbrannten in einer kleinen, hellen Flamme. Das hatte sie erwartet. Deshalb war sie hierher gekommen. Strahlenglück, dachte sie, das leichteste der Welt.
Der Wärter mußte sie zweimal ansprechen. »Es wird geschlossen, Mademoiselle.«
Sie stand auf und sah das müde, versorgte Gesicht des Mannes. Einen Augenblick konnte sie nicht verstehen, daß er nicht spürte, was sie fühlte — aber selbst Wunder wurden in Permanenz wohl zur Gewohnheit. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte sie.
»Zwei Jahre.«
»Kannten Sie den Wärter, der während des Krieges hier war?«
»Nein.«
»Es muß schön sein, hier den Tag zu verbringen.«
»Es ist ein Auskommen«, sagte der Mann. »Sehr knapp. Mit der Inflation.«
Sie holte einen Geldschein aus der Tasche. Die Augen des Wärters leuchteten auf. Das war ein Wunder, dachte sie, und es war nichts dagegen zu sagen — es war Brot und Wein und Leben und wohl auch Glück. Sie trat in den grauen Hof. Wurden Wunder wirklich eintönig, dachte sie, wenn man sich an sie gewöhnte? Wurden sie zum Alltag, so wie der Begriff des Lebens hier unten zum Alltag geworden zu sein schien, zum Licht der Routine, das immer schien, anstatt eine strahlende Kapelle zu bleiben?
Sie sah sich um. Die Sonne lag eintönig grell auf den Dächern des Gefängnisses nebenan, aber sie enthielt alle Strahlen, die in der Kapelle das Fest des Lichtes aufführten. Polizisten gingen über den Hof, und ein Wagen mit Gesichtern hinter vergitterten Fenstern rumpelte vorüber. Das Strahlenwunder war eingekreist zwischen den Bauten der Polizei und der Justizbehörden, umgeben von der Atmosphäre von Aktenschränken, Verbrechen, Morden, Prozessen, Neid, Bosheit und dem hilflosen Schatten, den die Menschheit Gerechtigkeit nannte. Die Ironie war stark — aber Lillian war nicht sicher, ob sie nicht auch eine tiefere Bedeutung hatte und ob es nicht so sein mußte, damit es ein Wunder blieb. Sie dachte plötzlich an Clerfayt. Sie lächelte. Sie war bereit. Sie hatte seit seiner Abfahrt nichts von ihm gehört. Es schmerzte sie nicht; sie hatte es auch nicht erwartet. Sie brauchte ihn noch nicht; aber es war gut zu wissen, daß er da war.
* * *
Clerfayt hatte in Rom in Büros, Cafés und Werkstätten herumgesessen. Seine Abende verbrachte er mit Lydia Morelli. Er dachte im Anfang öfter an Lillian; dann vergaß er sie für Tage. Sie rührte ihn, etwas, was ihm bei Frauen sonst nicht so leicht passierte. Sie schien ihm wie ein schöner, junger Hund, der alles übertrieb, was er tat. Sie würde sich schon gewöhnen, dachte er. Noch glaubte sie, sie müsse alles einholen, von dem sie annahm, es versäumt zu haben. Sie würde bald herausfinden, daß sie nichts versäumt hatte. Sie würde sich orientieren und so werden wie die andern — ähnlich wie Lydia Morelli, aber wahrscheinlich nicht so perfekt. Sie hatte weder Lydias skeptische Klugheit noch ihre feminine Rücksichtslosigkeit. Sie war etwas für einen leicht sentimentalen Mann mit poetischen Idealen, der viel Zeit für sie haben konnte, entschied er — nichts für ihn. Sie hätte bei Wolkow bleiben sollen. Der hatte scheinbar nur für sie existiert und sie, natürlich, deshalb auch verloren, so war das nun einmal. Clerfayt war gewohnt anders zu leben. Er wollte in nichts mehr zu tief hineingezogen werden. Lydia Morelli war richtig für ihn. Lillian war ein reizvolles, kurzes Erlebnis in den Ferien für ihn gewesen. Für Paris war sie zu provinziell, zu anspruchsvoll und zu unerfahren.
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