Er fühlte sich erleichtert über seinen Entschluß. Er würde Lillian in Paris anrufen und sie noch einmal sehen, um es ihr zu erklären. Vielleicht war auch gar nichts zu erklären. Sicherlich war nichts zu erklären. Sie hatte es sich ohne Zweifel längst selbst erklärt. Aber wozu wollte er sie dann noch sehen? Er dachte nicht lange darüber nach. Wozu nicht? Es war ja fast nichts zwischen ihnen gewesen. Er unterschrieb seinen Kontrakt und blieb noch zwei Tage in Rom. Lydia Morelli fuhr am selben Tag nach Paris wie er. Er fuhr mit Giuseppe. Lydia mit der Eisenbahn; sie hasste Autoreisen und Flugzeuge.
Lillian hatte immer Angst vor der Nacht gehabt. Nacht hatte etwas mit Ersticken zu tun, mit Schattenhänden, die nach der Kehle griffen, mit der entsetzlichen und unerträglichen Einsamkeit des Todes. Sie hatte im Sanatorium monatelang Licht brennen lassen, um der schneidenden Klarheit der Schneenächte im Vollmond und der Bedrückung der fahlen, mondlosen Nächte mit dem grauen Schnee, der dann das Farbloseste der Welt war, zu entgehen. Die Nächte in Paris waren milder. Der Fluss war draußen und Notre-Dame und ab und zu ein Betrunkener, der auf dem Pflaster Lärm machte, oder ein Wagen, der auf schwirrenden Reifen über die Straße summte. Als die ersten Kleider kamen, hängte Lillian sie nicht in den Schrank. Sie hängte sie um sich herum ins Zimmer. Eines, aus Samt, hing über dem Bett, das silberne dicht daneben, so daß sie sie anfassen konnte, wenn sie aus dem Schlaf auffuhr, herausgefallen aus alten Schreckträumen, allein, mit einem erstickten Schrei fallend, fallend aus endlosem Dunkel in endloses Dunkel — sie konnte dann ihren Arm ausstrecken und die Kleider anfassen, und sie waren wie silberne und samtene Seile, an denen sie sich zurückziehen konnte aus dem gestaltlosen Grauen, zurück in Wände, Zeit, Beziehung, Raum und Leben. Sie strich mit den Händen darüber, sie fühlte den Stoff und stand auf und ging in ihrem Zimmer umher, nackt oft, und sie war dann von ihren Kleidern wie von Freunden umgeben, sie hingen an ihren Bügeln von den Wänden, von den Türen des Schrankes, und ihre Schuhe standen golden und kastanienfarben und schwarz nebeneinander in einer Reihe mit dünnen, hohen Absätzen auf der Kommode, als wären sie zurückgelassen worden von einem Trupp sehr eleganter Botticelli-Engel, die für kurze Zeit zur Sainte-Chapelle zu einer mitternächtlichen Anbetung fortgeflogen waren und mit dem Morgengrauen zurückkommen würden. Nur eine Frau konnte wissen, dachte sie, wieviel Trost in einem Nichts von einem Hut liegen konnte. Sie wanderte umher in der Nacht zwischen ihren Sachen, sie hielt den Brokat in das Mondlicht, sie setzte eine kleine Hutkappe auf und probierte ein Paar Schuhe und manchmal ein Kleid an, sie stand in dem bleichen Licht forschend vor dem Spiegel und sah in das matte Phosphoreszieren, in ihr Gesicht, auf ihre Schultern, ob sie schon eingesunken seien, auf ihre Brüste, ob sie schon müde und auf ihre Beine, ob sie schon die nach innen weisenden Kurven der Magerkeit an den Oberschenkeln zeigten. Noch nicht, dachte sie, noch nicht, und setzte das lautlose gespenstische Spiel fort, ein anderes Paar Schuhe, ein bißchen Hut, von dem man nicht wußte, wie es sich auf den Haaren hielt, die paar Stücke Schmuck, die sie besaß und die nachts aussahen, als hätten sie Hexenkraft, und das Bild im Spiegel, das zurücklächelte und zurückfragte und zurückblickte, als wisse es mehr als sie selbst.
* * *
Clerfayt starrte sie an, als er sie wieder sah, so hatte sie sich verändert. Er hatte sie angerufen — nachdem er zwei Tage in Paris war — wie eine unbequeme Pflicht, vermischt mit etwas Neugier, und hatte eine Stunde bleiben wollen. Er blieb den Abend. Es waren nicht allein die Kleider, das sah er sofort. Er hatte genug Frauen gesehen, die sich gut anzogen, und von Kleidern verstand Lydia Morelli mehr als ein Drillsergeant vom Exerzieren. Es war Lillian, die sich verändert hatte. Ihm schien, als habe er vor ein paar Wochen ein halbes Mädchen, ein leicht schlaksiges, nicht ganz ausgewachsenes Etwas verlassen und plötzlich jemand wieder gefunden, der die mystische Grenze der Adoleszenz gerade passiert und noch ihren Reiz, aber schon die magische Sicherheit einer sehr schönen, jungen Frau hatte. Er hatte Lillian verlassen wollen; jetzt war er froh, noch eine späte Chance zu haben, sie halten zu können. In der Abwesenheit hatte er sich die Eigenschaften vergrößert und eingeredet, die sie etwas provinziell gemacht hatten — den Mißklang zwischen zu starker Intensität und zu unsicherer Form, den er als leichte Hysterie gedeutet hatte. Nichts war davon mehr da. Eine Flamme brannte, ruhig und stark, und er wußte, wie selten das war. Es gab unzählige Küchenlichter in Silberkandelabern, und Jugend wurde oft mit der Flamme verwechselt und hatte auch etwas davon, bis sie durch Kalkulation und Resignation trübe wurde — aber hier war etwas anderes. Warum hatte er das vorher nicht gesehen? Er hatte es gespürt, aber er hatte es nicht erkannt. Es schien ihm, als habe er eine Forelle gesehen, die man in ein Aquarium gesteckt hatte, das zu klein für sie war und die dort überall ungeschickt anstieß und Pflanzen ausriss und Schlamm aufrührte. Jetzt, plötzlich, war sie nicht mehr behindert durch die Scheiben und Steine — sie hatte den Fluss gefunden, der zu ihr gehörte, und stieß nicht mehr an; sie spielte mit ihrer eigenen Schnelligkeit und mit den Farben des Regenbogens, die auf ihrer glatten Haut wie runde Blitze schimmerten.
»Mein Onkel Gaston will mir eine Party geben«, sagte Lillian ein paar Abende später.
»So?«
»Ja. Er will mich verheiraten.«
»Immer noch?«
»Mehr als je! Er fürchtet nicht nur meinen, sondern auch seinen Ruin, wenn ich länger Kleider kaufe.«
Sie saßen wieder im Grand Vefour. Der Kellner brachte wieder, wie beim ersten Mal, eine Seezunge mit gerösteten Mandeln, und sie tranken wieder einen jungen Montrachet. »Du bist einsilbig geworden in Rom«, sagte Lillian.
Clerfayt blickte auf. »So?«
Lillian lächelte. »Oder ist es die Frau, die vorhin hereingekommen ist?«
»Welche Frau?«
»Ist es nötig, daß ich sie dir zeige?«
Clerfayt hatte Lydia Morelli nicht hereinkommen sehen. Er bemerkte sie erst jetzt. Was, zum Teufel, hatte sie gerade hierher geführt? Er kannte den Mann nicht, mit dem sie da war, wußte aber, daß er Johnson hieß und sehr reich sein sollte. Lydia hatte wahrhaftig keine Zeit verloren, seit er ihr morgens gesagt hatte, daß er sie auch heute abend nicht treffen könne. Er erinnerte sich jetzt auch, warum sie ihn hier aufgespürt hatte — er war vor einem Jahr öfter mit ihr hier gewesen. Man sollte vorsichtig sein mit seinen Lieblingsrestaurants, dachte er ärgerlich.
»Du kennst sie?«
»So wie manche andere; nicht mehr und nicht weniger.«
Er sah, daß Lydia Lillian beobachtete und bereits bis auf hundert Francs wußte, was sie trug, woher es kam und wieviel es kostete. Er war überzeugt, daß sie sogar Lillians Schuhe taxiert hatte, obschon sie sie nicht sehen konnte. Sie war in dieser Beziehung eine Hellseherin. Er hätte die Situation vermieden, wenn er daran gedacht hätte — jetzt, da sie da war, beschloß er, sie auszunützen. Die einfachsten Reaktionen waren immer noch die wirksamsten. Eine davon war Rivalität. Wenn Lillian eifersüchtig würde, um so besser.
»Sie ist ausgezeichnet angezogen«, sagte Lillian.
Er nickte. »Sie ist bekannt dafür.«
Er erwartete jetzt eine Bemerkung über Lydias Alter. Sie war vierzig, sah tagsüber aus wie dreißig und abends wie fünfundzwanzig, wenn das Licht gut war. Das Licht in Lokalen, in die Lydia ging, war immer gut. Die Bemerkung über das Alter kam nicht. »Sie ist schön«, sagte Lillian. »Hast du ein Verhältnis mit ihr gehabt?«
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