»Das geht Sie nichts an. Aber da heute Mittwoch ist, will ich es Ihnen erklären. Die Dame kommt von einem andern Stern und kennt unsere Gebräuche hier unten noch nicht; sie lacht, weil Sie um Ihren Wagen jammern, anstatt sich zu freuen, daß Sie noch leben. Der Dame ist das unerklärlich. Ich hingegen bewundere Sie deshalb. Ich werde Ihnen von der nächsten Ortschaft einen Abschleppwagen schicken.«
»Halt! So kommen Sie nicht davon! Hätten Sie mich nicht zum Rennen herausgefordert, wäre ich ruhig gefahren und würde nicht —«
»Die Konjunktive geraten Ihnen durcheinander«, sagte Clerfayt. »Am besten machen Sie den verlorenen Krieg für alles verantwortlich.«
Der Mann sah auf Clerfayts Nummernschild. »Französisch! Wie kriege ich da mein Geld?« Er fummelte mit einem Bleistift und einem Stück Papier in der linken Hand herum. »Ihre Nummer! Schreiben Sie sie mir auf! Sehen Sie nicht, daß ich nicht schreiben kann mit meinem Arm?«
»Lernen Sie es. Ich habe Schlimmeres lernen müssen.«
Clerfayt stieg wieder ein. Der Mann folgte ihm. »Wollen Sie sich Ihrer Verantwortung durch Flucht entziehen?«
»Ja. Ich werde Ihnen aber trotzdem einen Wagen zum Abschleppen schicken.«
»Was? Sie wollen mich hier im Regen auf der Straße stehen lassen?«
»Ja. Dies ist ein Zweisitzer. Atmen Sie tief, schauen Sie auf die Berge, danken Sie Gott, daß Sie noch leben, und denken Sie daran, daß bessere Leute als Sie sterben mußten.«
* * *
Sie fanden in Biasca eine Garage. Der Besitzer war beim Abendessen. Er verließ seine Familie und nahm eine Flasche Barberawein mit. »Er wird etwas Alkohol brauchen können«, sagte er. »Ich vielleicht auch.«
Der Wagen glitt weiter den Berg hinunter. Kehre auf Kehre, Serpentine auf Serpentine. »Dies ist ein eintöniges Stück«, sagte Clerfayt. »Es zieht sich hin bis Locarno. Dann kommt der See. Sind Sie müde?«
Lillian schüttelte den Kopf. Müde! dachte sie. Eintönig! Spürt dieses gesunde Stück Leben neben mir denn nicht, daß alles in mir zittert? Begreift er nicht, was in mir vorgeht? Fühlt er nicht, daß das eingefrorene Bild der Welt plötzlich in mir aufgetaut ist und sich bewegt und spricht, daß der Regen spricht, daß die nassen Felsen sprechen und das Tal mit seinen Schatten und Lichtern und die Straße? Ahnt er nicht, daß ich nie wieder so eins mit ihnen sein werde wie jetzt, als läge ich in einer Wiege und im Arm eines unbekannten Gottes, ängstlich und vertrauend noch wie ein junger Vogel, und doch schon wissend, daß all dies nur dieses eine Mal da sein wird für mich, daß ich es verliere, während ich es besitze und es mich besitzt, diese Straße und diese Dörfer, diese dunklen Lastautos vor den Wirtshäusern, diesen Gesang hinter den erhellten Fenstern, den grauen und silbernen Himmel, und diese Namen, Osogna, Cresciano, Claro, Castione und Bellinzona, die, kaum gelesen, bereits hinter mir wieder wie Schatten zusammenfallen, als wären sie nie gewesen? Sieht er nicht, daß ich ein Sieb bin, das verliert, während es empfängt, und kein Korb, der sammelt? Merkt er nicht, daß ich kaum sprechen kann, weil mein Herz in mir schwillt, groß und anonym, und daß unter den wenigen Namen, die es kennt, auch seiner ist, aber daß jeder eigentlich immer nur Leben heißt?
»Wie gefiel Ihnen Ihre erste Begegnung hier unten?« fragte Clerfayt. »Ein Mann, der um seinen Besitz jammert und sein Leben für selbstverständlich hält? Sie werden noch viele ähnliche kennenlernen.«
»Es war eine Abwechslung. Oben hielt jeder sein Leben für entsetzlich wichtig. Ich auch.«
Straßen sprangen vor ihnen auf. Lichter, Häuser, Blau und ein weiter Platz mit Arkaden. »Wir sind in zehn Minuten da«, sagte Clerfayt. »Dies ist schon Locarno.« Eine Straßenbahn ratterte heran und versperrte ihnen im letzten Augenblick den Weg. Clerfayt lachte, als er sah, daß Lillian sie anstarrte, als wäre sie eine Kathedrale. Sie hatte seit vier Jahren keine mehr gesehen. Straßenbahnen gab es nicht in den Bergen.
Plötzlich lag der See vor ihnen, breit, silbern und unruhig. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolken zogen rasch und niedrig über den Mond. Ascona lag still mit seiner Piazza am Ufer.
»Wo werden wir wohnen?« fragte Lillian.
»Am See. Im Hotel Tamaro.«
»Woher kennen Sie das alles?«
»Ich habe nach dem Kriege ein Jahr lang hier gelebt«, erwiderte Clerfayt. »Morgen früh werden Sie wissen, warum.«
Er hielt vor dem kleinen Hotel und lud das Gepäck aus. »Der Besitzer hier hat eine Bibliothek«, sagte er. »Er ist fast ein Gelehrter. Und ein anderer dort oben auf dem Berg hat ein Hotel vollgehängt mit Cézannes, Utrillos und Lautrecs, so etwas gibt es hier. Wollen wir sofort essen fahren?«
»Wohin?«
»Nach Brissago, an der italienischen Grenze. Zehn Minuten von hier. In ein Restaurant, das Giardino heißt.«
Lillian sah sich um. »Da blühen ja Glyzinien!«
Die blauen Blütentrauben hingen an den weißen Häuserwänden. Über eine Gartenmauer schütteten Mimosen ihr Gold und ihr gefiedertes Grün. »Frühling«, sagte Clerfayt. »Gott segne Giuseppe. Er verschiebt die Jahreszeiten.«
Der Wagen fuhr langsam den See entlang. »Mimosen«, sagte Clerfayt und zeigte auf die blühenden Bäume am See. »Ganze Alleen. Und da ist ein Hügel mit Iris und Narzissen. Dieses Dorf heißt Porto Ronco. Und das dort auf dem Berge Ronco. Die Römer haben es gebaut.«
Er parkte den Wagen neben einer langen, steinernen Treppe. Sie stiegen zu einem kleinen Restaurant hinauf. Er bestellte eine Flasche Soave, Prosciutto, Scampis mit Reis und Käse aus dem Valle Maggia.
Es waren nicht viele Leute da. Die Fenster standen offen. Die Luft war sanft. Ein Topf mit weißen Kamelien stand auf dem Tisch.
»Sie haben hier gelebt?« fragte Lillian. »An diesem See?«
»Ja. Fast ein Jahr. Nach meiner Flucht und nach dem Kriege. Ich wollte ein paar Tage bleiben, aber ich blieb viel länger. Ich hatte es nötig. Es war eine Kur mit Nichtstun, Sonne, Eidechsen auf den Mauern, Starren in den Himmel und in den See und so viel Vergessen, daß die Augen endlich nicht mehr fixiert auf einen Punkt blickten, sondern wieder bemerkten, daß die Natur zwanzig Jahre menschlichen Irrsinns überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte. Salute!« Lillian trank den leichten italienischen Wein. »Irre ich mich, oder ist das Essen hier erstaunlich gut?« fragte sie.
»Es ist erstaunlich gut. Der Wirt könnte Chef in jedem großen Hotel sein.«
»Warum ist er es nicht?«
»Er war es. Sein Heimatdorf gefällt ihm besser.«
Lillian blickte auf. »Er wollte zurück — nicht hinaus?«
»Er war draußen — und ging zurück.«
Sie stellte ihr Glas auf den Tisch. »Ich bin glücklich, Clerfayt«, sagte sie. »Dazu muß ich sagen, daß ich überhaupt nicht weiß, was das Wort bedeutet.«
»Ich weiß es auch nicht.«
»Waren Sie nie glücklich?«
»Oft.«
Sie sah ihn an. »Jedes Mal anders«, fügte er hinzu.
»Wann am meisten?«
»Ich weiß es nicht. Es war jedes Mal anders.«
»Wann am meisten?«
»Allein«, sagte Clerfayt.
Lillian lachte. »Wohin gehen wir jetzt? Gibt es noch mehr verzauberte Wirte und Hoteliers hier?«
»Viele. Nachts, bei Vollmond, taucht ein gläsernes Restaurant aus dem See auf. Es gehört einem Sohne Neptuns. Man kann dort alte römische Weine kneipen. Aber jetzt gehen wir zu einer Bar, in der es einen Wein gibt, der in Paris schon ausverkauft ist.«
Sie fuhren zurück nach Ascona. Clerfayt ließ den Wagen vor dem Hotel stehen. Sie gingen die Piazza entlang und stiegen in einen Keller hinab. Unten war eine kleine Bar.
»Ich brauche nichts mehr zu trinken«, sagte Lillian. »Ich bin betrunken von den Mimosen. Das Land schwimmt ja darin. Was sind das für Inseln im See?«
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