»In den Zeiten Roms soll dort ein Venustempel gestanden haben. Jetzt hat jemand ein Restaurant dort. Aber in Vollmondnächten gehen die alten Götter manchmal noch um. Dann findet der Besitzer am Morgen, daß viele Flaschen leer geworden sind, ohne daß man die Korken berührt hätte. Ab und zu schläft Pan auch seinen Rausch auf der Insel aus und erwacht mittags. Dann hört man seine Flöte, und alle Rundfunksendungen haben empfindliche Störungen.«
»Dieser Wein ist wunderbar. Was ist es?«
»Alter Champagner, im Keller hier herrlich gelagert. Zum Glück verstehen die antiken Götter nichts davon, sonst hätten sie ihn längst getrunken. Champagner wurde erst im Mittelalter entdeckt.«
Sie gingen zurück. An einer Hauswand hing ein Christus am Kreuz. Gegenüber war die Tür zu einem Restaurant. Der Erlöser blickte stumm in den erleuchteten Raum, aus dem Gelächter und Lärm scholl. Es schien Lillian, als wäre etwas dazu zu sagen — aber dann war nichts zu sagen. Alles gehörte zueinander.
Sie stand am Fenster ihres Zimmers. Draußen waren der See, die Nacht und der Wind. Das Frühjahr rumorte in den Platanen der Piazza und in den Wolken. Clerfayt kam herein. Er legte den Arm um sie. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er küßte sie. »Hast du keine Angst?« fragte sie.
»Wovor?«
»Daß ich krank bin.«
»Ich habe Angst davor, daß mir beim Rennen mit zweihundert Kilometer Geschwindigkeit ein Vorderreifen platzt«, sagte er.
Lillian atmete tief auf. Wir sind ja ähnlich, dachte sie. Wir haben ja beide keine Zukunft! Seine reicht immer nur bis zum nächsten Rennen; und meine bis zum nächsten Blutsturz. Sie lächelte.
»Es gibt eine Geschichte«, sagte Clerfayt. »In Paris wurde zur Zeit der Guillotine ein Mann zur Hinrichtung geführt. Es war kalt und ein weiter Weg. Die Wärter machten unterwegs halt, um zu trinken. Sie boten die Flasche Wein auch dem Verurteilten an, nachdem sie getrunken hatten. Der nahm sie, betrachtete sie einen Augenblick, sagte dann: ›Eine ansteckende Krankheit wird ja wohl keiner von uns haben‹, und trank selbst. Eine halbe Stunde später rollte sein Kopf in den Korb. Diese Geschichte hat meine Großmutter mir erzählt, als ich zehn Jahre alt war. Sie war gewohnt, eine Flasche Calvados am Tag zu trinken. Jeder prophezeite ihr einen frühen Tod. Sie lebt noch. Die Propheten sind längst tot. Ich habe aus der Kellerbar eine Flasche von dem alten Champagner mitgebracht. Man sagt, daß er im Frühjahr stärker schäume als zu anderen Zeiten. Er spüre das Leben noch. Ich lasse sie Ihnen hier.«
Er stellte die Flasche auf das Fensterbrett, nahm sie aber wieder weg. »Man soll Wein nicht in den Mond stellen. Der Mond tötet seinen Duft. Auch das stammt von meiner Großmutter.«
Er ging zur Tür. »Clerfayt«, sagte Lillian.
Er drehte sich um. »Ich bin nicht weggefahren, um allein zu bleiben«, sagte sie.
Paris lag mit seinen Vororten grau, hässlich und verregnet da; aber je weiter sie in die Stadt kamen, um so mehr begann die Verzauberung. Ecken, Winkel und Straßen tauchten auf wie Bilder von Utrillo und Pissarro, das Grau wurde bleich und fast silbrig, der Fluss war plötzlich da mit Brücken und Schleppern und Bäumen mit Knospen, den bunten Reihen der Bouquinisten und den Quadern der alten Gebäude am rechten Seine-Ufer.
»Von dort«, sagte Clerfayt, »hat man Marie Antoinette abgeholt, um sie zu köpfen. Im Restaurant gegenüber isst man besonders gut. Man kann hier überall Hunger mit Geschichte verbinden. Wo wollen Sie wohnen?«
»Dort«, erwiderte Lillian und zeigte über den Fluss auf die helle Fassade eines kleinen Hotels.
»Kennen Sie es?«
»Woher?«
»Aus der Zeit, als Sie hier lebten?«
»Als ich hier lebte, wohnte ich meistens im Keller eines Gemüsehändlers versteckt.«
»Wollen Sie nicht lieber irgendwo im sechzehnten Arrondissement wohnen? Oder bei Ihrem Onkel?«
»Mein Onkel ist so geizig, daß er wahrscheinlich selbst nur ein Zimmer hat. Fahren wir hinüber und fragen wir nach, ob dort Zimmer frei sind. Wo wohnen Sie?«
»Im Ritz.«
»Natürlich«, sagte Lillian.
Clerfayt nickte. »Ich bin nicht reich genug, anderswo zu wohnen.«
Sie fuhren über die Brücke des Boulevard St.-Michel in den Quai des Grands-Augustins und hielten vor dem Hotel Bisson. Als sie ausstiegen, kam gerade ein Hausknecht mit Koffern heraus. »Da ist mein Zimmer«, sagte Lillian. »Jemand zieht aus.«
»Du willst wirklich hier wohnen? Einfach nur, weil du das Hotel von drüben gesehen hast?«
Lillian nickte. »Ich will sogar so leben. Ohne irgendwelche Empfehlungen und Vorurteile.«
Das Zimmer war frei. Das Hotel hatte keinen Aufzug, aber das Zimmer lag zum Glück im ersten Stock. Die Treppen waren ausgetreten und alt. Das Zimmer war klein und sparsam möbliert; aber das Bett schien gut zu sein, und ein Badezimmer war da. Die Möbel waren modern, bis auf einen kleinen Barocktisch, der wie ein Prinz zwischen Sklaven stand. Die Tapete war alt und das elektrische Licht ungenügend — dafür aber leuchtete vor dem Fenster der Fluss mit der Conciergerie, den Quais und den Türmen von Notre-Dame.
»Du kannst jeden Tag ausziehen, wenn du willst«, sagte Clerfayt. »Manche Menschen vergessen das.«
»Wohin? Zu dir ins Ritz?«
»Nicht zu mir, sondern ins Ritz«, erwiderte Clerfayt. »Ich habe da während des Krieges ein halbes Jahr gewohnt. Mit einem Bart und unter anderem Namen. Nach der billigen Seite hin, zur Rue Cambon. Auf der anderen Seite, zur Place Vendфme hin, wohnten die hohen deutschen Bonzen. Es war sehr merkwürdig.«
Der Hausknecht brachte die Koffer herauf. Clerfayt ging zur Tür. »Willst du heute abend mit mir essen?«
»Wann?«
»Um neun?«
»Um neun.«
Sie blickte ihm nach. Sie hatten auf der Reise mit keinem Wort den Abend in Ascona erwähnt. Französisch war eine bequeme Sprache, dachte sie. Man glitt vom Du ins Sie und umgekehrt, und es war kein Zustand, sondern ein Spiel. Sie hörte Giuseppe röhren und ging zum Fenster. Vielleicht kommt er wieder, dachte sie, vielleicht auch nicht. Sie wußte es nicht, und es war nicht sehr wichtig. Wichtig war, daß sie in Paris war, daß es Abend war und daß sie atmete. Die Verkehrsampeln am Boulevard St.-Michel wurden grün, und wie die wilde Jagd kam eine Herde Citroлns, Renaults und Lastwagen über die Brücke angerast, hinter Giuseppe her. Lillian konnte sich nicht erinnern, je so viele Autos gesehen zu haben. Im Kriege hatte es nur wenige gegeben. Der Lärm war stark, aber er war wie eine Orgel für sie, auf der eiserne Hände ein mächtiges Tedeum spielten.
* * *
Sie packte ihre Sachen aus. Sie hatte nicht viel mitgebracht. Sie hatte auch nicht viel Geld bei sich. Sie rief ihren Onkel an. Er antwortete nicht. Sie rief noch einmal an. Eine fremde Stimme antwortete. Das Telefon war von ihrem Onkel vor Jahren aufgegeben worden.
Sie spürte eine kurze Panik. Sie hatte ihr Geld monatlich durch eine Bank bekommen und lange nichts von ihrem Onkel gehört. Er konnte nicht tot sein, dachte sie. Sonderbar, daß das immer der erste Gedanke war! Vielleicht war er fortgezogen, anderswohin. Sie fragte im Hotel nach einem Adressbuch. Es gab nur das alte aus dem ersten Jahre des Krieges, und es gab noch kein neues Telefonbuch. Es gab auch noch nicht viel Kohlen. Das Zimmer wurde kühl am Abend. Lillian zog ihren Mantel an. Sie hatte zur Vorsicht ein paar wollene Sachen zusammengepackt, als sie das Sanatorium verlassen hatte, und geglaubt, sie könne sie hier jemand schenken. Jetzt war sie froh, daß sie sie hatte. Die Dämmerung begann grau und schmutzig durch das Fenster zu kriechen. Lillian nahm ein Bad, um sich zu wärmen, und legte sich zu Bett. Sie war zum ersten Mal allein, seit sie abgefahren war. Sie war zum ersten Mal wirklich allein seit Jahren. Ihr Geld reichte höchstens für eine Woche. Mit der Dunkelheit kam die Panik wieder. Wer wußte, wo ihr Onkel war? Vielleicht war er für ein paar Wochen auf Reisen gegangen. Vielleicht war er verunglückt, und vielleicht war er tot. Vielleicht war auch Clerfayt bereits untergetaucht in dieser unbekannten Stadt, in einem anderen Hotel, einem anderen Dasein, und sie würde auch von ihm nie wieder etwas hören. Sie fröstelte. Die Romantik zerstob rasch vor ein paar Tatsachen, vor Kälte und Einsamkeit. Im warmen Käfig des Sanatoriums summten jetzt die Heizröhren.
Читать дальше