Die Ruhe dieser Tage war trügerisch — unter der Oberfläche war ich schon in einen trüben Strom geraten, der mich langsam in die Tiefen eines neuen, unausweichlichen Gefühls hinunterriss: zum Hass.
In der Freizeit entfloh ich, ohne es jemandem zu sagen, ins Athenäum in der Calle Canuda und folgte im Zeitungsarchiv und im Katalogfundus Mauricio Valls’ Spuren. Was über die Jahre nur ein uninteressantes, verschwommenes Bild gewesen war, bekam nun mit jedem Tag mehr Konturen, ja eine schmerzliche Präzision. Nach und nach rekonstruierte ich Valls’ öffentliche Karriere in den letzten fünfzehn Jahren. Seit seinen ersten Schritten im Regime war viel Wasser den Ebro hinuntergeflossen. Mit Zeit und Vitamin B hatte Don Mauricio Valls, wenn man denn den Zeitungen Glauben schenken durfte (was für Fermín identisch war mit dem Glauben, Fanta Orange erhalte man durch das Auspressen frischer Orangen aus Valencia), sein Trachten von Erfolg gekrönt gesehen und war zu einem glitzernden Stern am Firmament des künstlerischen und literarischen Spaniens geworden.
Sein Aufstieg war unaufhaltsam gewesen. Von 1944 an wurden ihm immer wichtigere Ämter und Ernennungen in den akademischen und kulturellen Institutionen des Landes zuerkannt. Seine Artikel, Reden und sonstigen Publikationen waren allmählich Legion. Jeder Wettbewerb, Kongress oder andere kulturelle Akt, der etwas auf sich hielt, rief nach Don Mauricios Beteiligung und Anwesenheit. 1947 gründete er mit zwei Teilhabern die Sociedad General Ariadna, ein Verlagshaus mit Niederlassungen in Madrid und Barcelona, das die Presse nachdrücklich zur »Prestigemarke« der spanischen Literatur erhob.
Seit 1948 sprach dieselbe Presse von Mauricio Valls nur noch als vom »brillantesten, angesehensten Intellektuellen des neuen Spaniens«. Die selbsternannte Intelligenz des Landes und die Leute, die ihr angehören wollten, schienen mit Don Mauricio eine leidenschaftliche Romanze zu erleben. Die Feuilletonjournalisten ergingen sich in Lobhudeleien und Liebedienerei, um seine Gunst zu gewinnen und mit Glück irgendein eigenes in einer Schublade vor sich hin dösendes Opus in seinem Verlag veröffentlicht zu sehen und sich so Zutritt zum offiziellen Auditorium Maximum zu verschaffen und vom Manna zu kosten, und sei es bloß eine Krume.
Valls hatte die Regeln gelernt und beherrschte das Spielbrett wie kein Zweiter. Anfang der fünfziger Jahre überbordeten sein Ruf und sein Einfluss bereits die offiziellen Kreise und begannen die sogenannte Zivilgesellschaft und ihre wichtigen Persönlichkeiten zu durchdringen. Seine Losungen waren zu einem Kanon offenbarter Wahrheiten geworden, die sich jeder der auserlesenen drei- oder viertausend Bürger, welche sich für gebildet hielten und auf ihre gewöhnlichen Mitmenschen hinabsahen, zu eigen machte und wie ein Musterschüler nachplapperte.
Unterwegs zum Gipfel, hatte Valls einen engen Kreis von ihm aus der Hand fressenden Gleichgesinnten um sich geschart, die mit der Zeit an die Spitze von Institutionen und in andere Machtpositionen vordrangen. Wagte irgendein Unglücksrabe Valls’ Worte oder seine Bedeutung in Frage zu stellen, wurde er in der Presse erbarmungslos gekreuzigt und aufs Groteskeste beschimpft, bis er als Aussätziger und Bettler dastand, dem alle Türen verschlossen und nur ein Leben in Vergessenheit oder das Exil blieben.
Ich las unendliche Stunden lang, über und zwischen den Zeilen, verglich Geschichten und Versionen, katalogisierte Daten und erstellte Listen mit Erfolgen und im Keller versteckten Leichen. Unter anderen Umständen, wenn mein Forschungsgegenstand rein anthropologischer Natur gewesen wäre, hätte ich vor Don Mauricio und seinen meisterlichen Schachzügen den Hut gezogen. Niemand konnte bestreiten, dass er gelernt hatte, das Herz und die Seele seiner Mitbürger zu lesen und an den Fäden zu ziehen, die ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Hirngespinste bewegten.
Wenn mir nach tagelangem Michversenken in die offizielle Version von Valls’ Leben etwas blieb, dann die Gewissheit, dass der Mechanismus zum Aufbau eines neuen Spaniens immer perfekter funktionierte und Don Mauricios kometenhafter Aufstieg zu den Altären der Macht beispielhaft war für ein zunehmend wichtiges, ein zukunftsträchtiges Muster, das ohne Zweifel das Regime überdauern und auf Jahrzehnte hinaus überall tiefe, unausrottbare Wurzeln schlagen würde.
Als Valls 1952 für drei Jahre Kulturminister wurde, hatte er den Gipfel der Macht erreicht und festigte in dieser Zeit seine Herrschaft und die seiner Lakaien, die er in die wenigen Positionen beförderte, die sie noch nicht kontrollierten. Sein Widerhall in der Gesellschaft nahm eine goldene Monotonie an. Seine Worte wurden als Quelle von Wissen und Gewissheit zitiert. Seine Präsenz in Jurys, Gerichten und bei Empfängen aller Art war sprichwörtlich. Unaufhörlich vermehrte sich sein Arsenal an Diplomen, Lorbeeren und Orden.
Und auf einmal geschah etwas Merkwürdiges.
Bei meiner ersten Durchsicht hatte ich es nicht bemerkt. Obwohl sich die Lobeshymnen und Meldungen über Don Mauricio immer mehr häuften, konnte man von 1956 an unter all dem Wust der Informationen ein Detail wahrnehmen, das von den vorher veröffentlichten Informationen abwich. Ton und Inhalt der Meldungen waren unverändert, aber nachdem ich jede einzelne gelesen und wiedergelesen und mit den anderen verglichen hatte, fiel mir etwas auf: Don Mauricio Valls war nicht mehr in der Öffentlichkeit erschienen. Sein Name, sein Prestige und seine Macht waren weiterhin auf Erfolgskurs. Es fehlte nur ein einziges Stück: seine Person. Nach 1956 gab es keine Fotos mehr, und seine Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen wurde nicht mehr erwähnt.
Der letzte Zeitungsausschnitt, der Mauricio Valls’ Auftreten bezeugte, datierte vom 2. November 1956, als ihm bei einem feierlichen Akt in der Gesellschaft der Schönen Künste in Madrid, an dem die höchsten Behördenmitglieder und die damalige Crème de la Crème teilnahmen, eine Auszeichnung für die beste verlegerische Arbeit des Jahres verliehen wurde. Der Text der Meldung folgte den üblichen, vorhersehbaren Regeln des Genres, mehr oder weniger eine Kurznachricht in Form eines Editorials. Das Interessanteste war das beigefügte Foto, das letzte, auf dem man Valls sah, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Er steckte in einem eleganten, gut geschnittenen Anzug und lächelte, während ihm das Publikum bescheiden und herzlich eine Ovation bescherte. Neben ihm sah man weitere Habitués bei derartigen Veranstaltungen, und hinter ihm, leicht unpassend und mit ernstem, undurchdringlichem Gesicht, waren zwei schwarzgekleidete, hinter einer dunklen Brille verschanzte Individuen zu erkennen. Sie schienen nicht wegen der Veranstaltung selbst da zu sein. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, ganz unkomödiantisch. Wachsam.
Nach diesem Abend in der Gesellschaft der Schönen Künste war Don Mauricio Valls nicht mehr abgelichtet oder in der Öffentlichkeit gesehen worden. Wie sehr ich auch suchte, ich fand keinen einzigen Auftritt mehr. Dessen überdrüssig, tote Gleise zu erforschen, kehrte ich an den Anfang zurück und rekonstruierte den Lebenslauf dieses Mannes, bis ich ihn auswendig konnte, als wäre es mein eigener. Ich witterte seiner Fährte nach in der Hoffnung, einen hilfreichen Hinweis auf den Aufenthaltsort dieses Menschen zu finden, der auf Fotos lächelte und seine Eitelkeit auf unendlichen Seiten spazieren führte, auf denen man einen servilen, nach Gefälligkeiten gierenden Hofstaat abgebildet sah. Ich suchte nach dem Mann, der meine Mutter umgebracht hatte, um die Scham vor seinem wahren Selbst zu verbergen, das offensichtlich auch sonst niemand aufzudecken in der Lage war.
An diesen einsamen Abenden in der alten Athenäumsbibliothek lernte ich zu hassen — an einem Ort, wo vor nicht allzu langer Zeit meine Sehnsüchte reineren Dingen gegolten hatten, der Haut meiner ersten unmöglichen Liebe, der blinden Clara, oder den Mysterien von Julián Carax und seinem Roman Der Schatten des Windes . Je schwerer Valls’ Spur zu finden war, desto weniger billigte ich ihm das Recht zu verschwinden und seinen Namen aus der Geschichte zu tilgen zu. Aus meiner Geschichte. Ich musste einfach wissen, was aus ihm geworden war. Ich musste ihm in die Augen sehen können, und sei es nur, um ihn daran zu erinnern, dass jemand, eine einzige Person auf der Welt, wusste, wer er wirklich war und was er getan hatte.
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