Im Schein des kleinen Lagerfeuers tranken sie Kaffee und legten sich anschließend hin, um das sternenflimmernde Firmament zu betrachten, das ihnen das Gefühl gab, direkt vor den Toren zum Himmel zu stehen.
Im Handumdrehen wurden sie von der Müdigkeit überwältigt. Noch vor dem Morgengrauen waren sie wieder auf den Beinen und setzten ihren Marsch fort. Zwei Stunden später gelangten sie zu einem Felsen, von dem aus die Landepiste und ihr winziges Lager im CamarataTal in der Ferne sichtbar waren.
Die provisorischen Lehmwände und das Strohdach kamen ihnen vor wie ein unerreichbares Paradies. Mutlosigkeit breitete sich unter ihnen aus. Erst als Cardona von unten ihre Lichtsignale erwiderte, fanden sie ein bisschen Trost. Einen Menschen zumindest gab es auf dieser Welt, der sich an sie erinnerte.
Doch der Spanier, der allein im Zentrum der Gran Sabana ausharrte, mindestens einen Tagesmarsch von der nächstgelegenen Ortschaft, der Mission in Kawanayen entfernt, konnte nichts für sie tun. Trotzdem hielt er die Stellung, denn er wusste, wie ungewiss das Schicksal war, das seine vier unglücklichen Freunde oben auf dem Berg erwartete.
Diese verbrachten den größten Teil des Vormittags damit, an der Klippe des Tafelbergs entlangzuwandern, bis Henry mit einer leichten Kopfbewegung auf eine etwa ein Meter breite Spalte zeigte, die wie eine tiefe Narbe in der Felswand klaffte. Als hätte ein Titan dem Berg mit einem Messer das Gesicht aufgeschlitzt.
»Da ist es«, sagte er.
Jimmie kroch auf dem Bauch bis zum Rand und warf einen Blick hinunter.
Fast hätte er sich übergeben.
Die Spalte ähnelte einem Kaminschacht, dessen Vorderseite offen stand und der dreihundert Meter weiter unten in einem Vorsprung endete.
Minutenlang verharrte er reglos. Als er sich umdrehte, war er kreidebleich.
»Ist das alles?«, fragte er.
»Ja.«
»Aber…«
»Tut mir Leid«, fiel ihm Henry ins Wort. »Wir sind um den ganzen Tafelberg herumgegangen und das ist die einzige Stelle, die für einen Abstieg überhaupt infrage kommt.«
Jimmie widersprach ihm nicht. Er setzte sich auf einen Stein und vergrub das Gesicht in den Händen. So blieb er sitzen, bis Mary sich zu ihm gesellte.
»Was hast du?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. »Siehst du so schwarz?«
Nach einigem Zögern sah er ihr in die Augen.
»Ich habe dich noch nie belogen«, antwortete er todernst. »Und ich will es jetzt auch nicht tun. Ich glaube, dass wir am Ende sind, Liebling.« Er hielt inne. »Endgültig am Ende, aber wir müssen es trotzdem versuchen, mit Gottes Hilfe.« Dann wandte er sich den beiden Männern zu, die ihn erwartungsvoll beobachteten. »Ich möchte, dass ihr uns beide aneinander seilt«, sagte er schließlich. »Entweder schaffen wir es gemeinsam oder wir sterben gemeinsam.«
»Wir werden uns alle aneinander seilen«, entschied Henry. »Ich gehe voran, dann folgt Mary. Du wirst sie halten und Delgado wird dich halten.«
»Das ist nicht gerecht«, wandte Mary ein. »Eure Überlebenschancen sind viel größer, wenn ihr nicht an uns gefesselt seid.«
»Wir sind in den Bergen«, entgegnete Henry schlicht. »Hier hängt das Schicksal des Einen von dem des Anderen ab. Das ist das Erste, was ein Bergsteiger lernt, wenn er den Pickel in die Hand nimmt. Mach dir keine Sorgen. Wenn du die Nerven behältst, kommen wir alle zusammen heil unten an.«
Eine halbe Stunde später waren alle bereit. Bevor sie mit dem gefährlichen Abstieg begannen, knieten sie nieder und baten den Schöpfer des geheimnisvollen Berges um ein Wunder, damit sie unbeschadet unten ankamen.
Als Mary in den Schacht blickte und unter sich die Gran Sabana sah, trat sie instinktiv einen Schritt zurück. Doch ihr Mann schubste sie sanft vorwärts und flüsterte ihr ins Ohr: »Los Liebling, zeig ihnen, was in dir steckt.«
Zu dritt hielten sie das Seil fest und ließen Henry langsam hinabgleiten, bis er sich mit den Füßen an der Felswand abfedern konnte. Als er sicheren Halt gefunden hatte, rief er nach oben.
»Es kann losgehen!«
Mary bekreuzigte sich, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und folgte ihm.
Die beiden Männer seilten sie Zentimeter um Zentimeter ab, bis sie Henry rufen hörten.
»Ich habe sie. Jetzt lasst die Vorräte herunter!«
An den Stahlseilen befestigt, die sie der Maschine entnommen hatten, folgten Wasser und Proviant, bis sie Henry erneut rufen hörten.
»Alles da! Jetzt die Diamanten!«
»Was hast du gesagt?«
»Die Diamanten!«
»Was meinst du, verdammt noch mal?«, gab Jimmie gereizt zurück.
»Den Sack voll Diamanten«, wiederholte der andere lachend. »Sind wir denn nicht deshalb hergekommen?«
»Lass die blöden Witze!«, gab Jimmie scharf zurück. »Wie kannst du in so einem Augenblick lachen?«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach sonst tun? Heulen etwa?«, erwiderte Henry. »Los, mach, dass du runterkommst, sonst wird es noch dunkel.«
Jimmie beeilte sich zu gehorchen. Seine Beine baumelten bereits über dem Abgrund, da schärfte Delgado ihm ein: »Immer mit der Ruhe. Das Einzige, was wir im Überfluss haben, ist Zeit. Lieber eine Stunde zu spät, als eine Minute zu früh.«
»Den Spruch kenne ich, allerdings genau umgekehrt«, antwortete Jimmie.
»Sicher. Aber hier geht es ja auch abwärts.«
Der Pilot schüttelte verwirrt den Kopf. Daraufhin ließ der andere ihn langsam hinab, während Jimmie mit den Füßen in der Luft baumelte und festen Halt suchte.
»Nach links, etwas mehr nach links!«, rief ihm Mary von unten zu. »Links von dir ist ein kleiner Vorsprung.«
Es war eine mühselige Prozession.
Zum Verzweifeln. Wie die beiden Profis vorausgesagt hatten, mussten sie wie Schildkröten vorgehen, die den nächsten Schritt erst wagen, wenn sie drei Beine fest verankert haben. Allein von ihrer Geduld und Präzision hingen Erfolg oder Misserfolg des ganzen Unternehmens ab.
Den überwiegenden Teil der Zeit schwiegen sie und befolgten genau sämtliche Anweisungen, die sie von Henry erhielten. Er kletterte stets voran und nur seiner langjährigen Erfahrung war es zu verdanken, dass sie relativ sicher absteigen konnten.
Gelegentlich schlug er einen der wenigen Kletterhaken, die sie dabeihatten, in die glatte Felswand und befestigte mit einem Karabiner das Seil daran. Später würde Delgado als Letzter die Kletterhaken und Karabiner einsammeln.
Sie schwitzten.
Sie keuchten.
Sie fluchten.
Die meiste Zeit aber beteten sie still vor sich hin, war doch allen bewusst, dass ihr Leben nun unwiderruflich in Gottes Händen lag.
Am Nachmittag erreichten sie eine winzige Mulde im Gestein, eine Art unebene Vertiefung, etwa einen Viertelmeter breit, wo Henry und Jimmie dicht nebeneinander sitzen und sich mit den Füßen an der Felswand abstützen konnten. Jimmie nahm Mary Huckepack und ebenso machten es Delgado und Henry.
Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Seiltänzern während einer Zirkusvorstellung als mit menschlichen Wesen, doch so anstrengend die Haltung auch war, sie bedeutete eine Erholung im Vergleich zu den Strapazen des Abstiegs.
Nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, etwas gegessen und ihren Durst gestillt hatten, fragte Henry, ohne den Kopf zu bewegen: »Wie viel Meter haben wir geschafft?«
»Etwa neunzig«, antwortete Delgado heiser.
»Dann werden wir hier die Nacht verbringen«, erklärte Henry.
Wieder herrschte lange Zeit Stille. Scheinbar wollte oder konnte niemand mehr denken, geschweige denn sprechen. Sie waren froh, dass ein anderer die Verantwortung übernommen hatte, und niemandem lag etwas daran, Henrys Entscheidung infrage zu stellen.
Wie sollten zwei Männer die ganze Nacht in einem schmalen Felsspalt hocken und dabei zwei erwachsene Menschen auf den Schultern tragen? Darauf gab es keine Antwort, doch da ihnen keine andere Möglichkeit blieb, war es auch zwecklos, sich die Frage überhaupt zu stellen.
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