»Manchmal glaube ich, dass du mich viel zu gut kennst.«
»Man muss dich gar nicht besonders gut kennen, um zu sehen, dass der Verlust der Maschine dich nicht halb so sehr schmerzt wie das Eingeständnis, dass sich deine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet haben. Dieser Berg ist nicht derselbe wie der, auf dem du mit McCracken gelandet bist.«
»Nein, stimmt«, gab Jimmie schließlich zu. »Obwohl er es laut McCrackens Angaben sein müsste.«
»Dann siehst du endlich ein, dass er dich reingelegt hat?«
»Nein! Niemals! Irgendwo steckt ein Fehler, aber ich bin sicher, dass das nicht seine Schuld ist. Er hat nicht gelogen. Ich muss mich geirrt haben.«
»Mein Gott! Wenn du mir nur halb so viel vertrauen würdest wie diesem Schotten!«
»Das tue ich doch. Ihr seid die einzigen Menschen auf dieser Welt, für die ich meine Hand ins Feuer legen würde.«
»Apropos Feuer…«, sagte Mary und sah zu der unbarmherzigen tropischen Sonne auf, die zweitausend Meter über dem Meeresspiegel auf ihre Köpfe niederbrannte. »Hast du noch Kraft, um ein Bad in dem Fluss zu nehmen, den wir bei der Landung gesehen haben? Er muss weniger als einen Kilometer von hier entfernt sein.«
Es war nur ein kleiner, rasch dahinfließender Bach mit kristallklarem eisigem Wasser, der sich von der Mitte des Plateaus in Richtung Nordosten schlängelte und wie ein überdimensionaler Pferdeschweif in die Tiefe stürzte.
Sie zogen sich aus und genossen ein erfrischendes Bad. Als sie sich am späten Nachmittag auf einen schwarzen Felsen legten, den das Wasser im Lauf von Millionen Jahren glatt geschliffen hatte, sagte Mary:
»Ich habe Lust auf Liebe.«
»Hier?«, fragte Jimmie überrascht. »Jetzt?«
Sie nickte lächelnd.
»Hier und jetzt«, wiederholte sie. »Ich habe Lust, Liebe zu machen und hier auf dem Heiligen Berg einen Sohn zu zeugen. Halb in dem Wasser liegend, das deinen Wasserfall speist. Gibt es einen schöneren Ort, um schwanger zu werden?«
»Du überraschst mich immer wieder«, sagte Jimmie und liebkoste zärtlich ihre Brüste. »Du bist die erstaunlichste Frau, die ich je kennen gelernt habe, und obendrein hast du immer Recht. Ein Kind, das hier gezeugt wird, muss ein ganz besonderer Mensch werden.«
Sie liebten sich zärtlich und gaben sich ihrer Leidenschaft vollkommen hin. Vielleicht war es das letzte Mal, dass sie einander ihre tiefe Zuneigung zeigen konnten.
Obendrein war es das erste und zugleich letzte Mal, dass sich zwei Menschen auf dem Gipfel des AuyanTepui liebten. Für die einen ein Heiliger Berg, für die anderen der Teufelsfelsen. Für alle jedoch der unzugänglichste und geheimnisvollste Ort der Welt.
Glücklich und zufrieden kehrten sie Hand in Hand zu der Stelle zurück, wo ihr Flugzeug in tiefen Schlaf gefallen war.
Ein Schlaf, aus dem es erst dreiunddreißig Jahre später erwachen sollte, als die venezolanische Luftwaffe mit Hilfe eines starken Hubschraubers das Wrack barg. Als Ausstellungsstück von unschätzbarem Wert wurde die Maschine anschließend vor dem Eingang zum Flughafen von Ciudad Bolívar ausgestellt.
Die Wahl des Ortes war eine verspätete Hommage an den Piloten Jimmie, der an einem Morgen des Jahres 1935 genau von dieser Landebahn in die Unsterblichkeit gestartet war.
Dort steht das Flugzeug bis heute.
Zwei Tage später tauchten Henry und Delgado endlich am Horizont auf.
Erschöpft ließen sie sich auf die Sitze fallen, die Jimmie unter den Tragflächen der Maschine im Schatten aufgestellt hatte. Schließlich sahen sie zu den beiden auf, die sie vom Innern des Flugzeugs aus erwartungsvoll musterten.
»Schlechte Nachrichten!«, sagte Henry schließlich. »Wir haben zwar eine Spalte im Felsen gefunden, an der wir uns dreihundert Meter tief abseilen könnten, aber wir konnten nicht sehen, was sich darunter befindet.«
»Und?«
»Das Hauptproblem ist, dass wir irgendwann an einen Punkt gelangen könnten, von dem aus es nicht mehr weitergeht. Dann säßen wir fest und könnten weder vor- noch rückwärts.«
»Ich dachte, ihr seid professionelle Bergsteiger?«
»Das sind wir auch«, versicherte Henry. »Aber das hier ist keine gewöhnliche Bergwand. Sie ist so glatt, als hätte man sie mit einem Messer gezogen, und an manchen Stellen gibt es sogar Überhänge.«
»Was soll das heißen?«, fragte Mary besorgt.
»Die Wand wölbt sich so stark nach innen, dass Vorsprünge entstehen, von denen man wie ein Stück Blei am Seil über dem Abgrund baumelt.«
»Großer Gott!«
»Mit einer Spezialausrüstung wäre es kein Problem«, warf Delgado ein, der es ansonsten vorzog zu schweigen. »Aber mit dem, was uns zur Verfügung steht, sehe ich ziemlich schwarz. Wenn wir erst einmal mit dem Abstieg begonnen haben, wird es kein Zurück mehr geben. Dann müssen wir bis zum Äußersten gehen.«
Niemand fragte nach, was mit »bis zum Äußersten« gemeint war. Allen war bewusst, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich in die Tiefe zu stürzen, wenn sie an irgendeiner Stelle nicht weiterkamen.
Es wurde ziemlich still, während jeder für sich darüber nachdachte, wie er selbst wohl in diesem Fall reagieren würde. Schließlich brach Henry das Schweigen.
»Du musst jetzt entscheiden, was wir machen sollen, Jimmie.«
Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Ich habe das Kommando gehabt, bis wir in die Schlammfalle geraten sind«, erwiderte er. »Jetzt bist du an der Reihe.«
»Aber es geht um dein Leben«, entgegnete Henry. »Und das deiner Frau. Delgado und ich sind derartige Situationen gewohnt, wenn auch nicht ganz so schwierige.« Er seufzte frustriert. »Und diese ist verdammt übel, das kannst du mir glauben.«
»Nicht so übel wie zu verhungern. Hier oben gibt es nur Kröten und Frösche und ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass wir ein Leben lang davon satt werden könnten.«
»Nicht ein Leben lang, aber lange genug, bis wir den Abstieg wagen. Wir müssen die Vorräte einteilen und so viel Wasser wie möglich mitnehmen. Der einzige Weg nach unten führt über Geduld.«
»Wie lange werden wir brauchen?«, fragte Mary.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete der andere mit schmerzhafter Offenheit. »Eine Woche vielleicht. Vielleicht auch zwei. Weiß der Kuckuck!«
»Das gibt es doch nicht!«, rief Mary entsetzt. »Heißt das etwa, dass wir unter Umständen eine Woche an einem Seil über dem Abgrund baumeln müssen?«
»Wenn wir Glück haben.«
»Das halte ich nicht durch!«
»Es ist dein Leben, Mary«, erklärte Henry in einem seltsamen Tonfall. »Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Wenn du überleben willst, musst du dich allmählich mit der Vorstellung anfreunden, dass du auf einem winzigen Felsvorsprung schlafen wirst, wenn wir überhaupt einen finden.«
»Mein Gott, da hilft ja nur noch beten!«
»O ja. Bete zu Jesus, Maria, Josef, den Aposteln Petrus und Paulus und vor allem zum Heiligen Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden. Er wird uns den Weg weisen. Wenn sie uns nicht helfen, sind wir zum Tode verurteilt.« Machtlos hob er die Hände zum Himmel. »Denk darüber nach und entscheide.«
»Was gibt es da nachzudenken?«, antwortete Mary niedergeschlagen. »Wenn ich beschließe, hier zu bleiben, wird mein halsstarriger Mann ebenfalls bleiben wollen. Und so einen grausamen Tod kann ich ihm nicht zumuten.« Sie kletterte aus der Kabine und sagte: »Also los, bringen wir es hinter uns, je schneller, desto besser!«
Sie nahmen alles mit, was ihnen beim Abstieg möglicherweise von Nutzen sein könnte, einschließlich des Wassertanks aus der Maschine und der Stahlseile, mit denen das Seitenleitwerk gesteuert wurde. Dann brachen sie langsamen Schrittes und bepackt wie Mulis Richtung Südosten auf.
Am späten Nachmittag schlugen sie am Ufer einer Lagune, die von unzähligen Fröschen bevölkert wurde, ihr Lager auf. So kam es, dass sie sich am Abend ein schmackhaftes Reisgericht mit Froschschenkeln genehmigen konnten, das Mary besonders scharf mit Pfefferschoten würzte.
Читать дальше