Auf Hilfe von außen konnten sie nicht hoffen. Niemand würde es wagen, auf dem Tepui zu landen, wenn er sah, welch verheerende Konsequenzen dies nach sich ziehen konnte. Und von ihrem Lager, das dreihundert Kilometer von der nächstgelegenen Stadt entfernt war, trennte sie eine tausend Meter hohe Steilwand.
»Was machen wir bloß?«, fragte Mary nervös.
»Auf jeden Fall die Ruhe bewahren«, antwortete der Pilot. »Hier gibt es Wasser im Überfluss und wir haben genug Proviant für eine ganze Woche dabei.« Er deutete mit dem Kinn auf ihre beiden Gefährten, die keine drei Meter weiter saßen. »Sie werden uns schon hier runterbringen.«
Mary wandte sich an Henry.
»Kannst du das?«
»Wenn ich es auf den Aconcagua geschafft habe, werde ich auch von hier wieder runterkommen«, beschwichtigte er sie.
»Daran zweifle ich nicht«, gab sie zurück. »Aber ich meinte nicht, ob du es schaffst, sondern ob du dir zutraust, auch uns runterzubringen.«
»Das hängt von euch ab. Wenn ihr die Nerven behaltet, können wir es schaffen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«
»Nicht Gott muss mich erhören, sondern du«, ermahnte Henry sie. »Ich bin sicher, dass Jimmie Gefahren ins Auge sehen kann. Aber wenn du im ungeeigneten Moment die Nerven verlierst, könntest du uns alle mit in den Tod reißen.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Tut mir Leid, wenn ich dir das sagen muss, aber vermutlich wird es eher von dir abhängen, ob es gelingt, als von mir.«
»Ja, du hast Recht und ich verspreche, mein Bestes zu geben.«
Henry, genannt El Cabullas, nickte mehrmals. Dann stand er auf und machte seinem Kollegen ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Na schön. Ich glaube, wir sollten uns an die Arbeit machen. Wir suchen eine Stelle, an der wir uns abseilen können, und ihr sucht das Gold und die Diamanten.«
»Wie lange werdet ihr brauchen?«
»Ein paar Tage, vielleicht auch länger«, lautete die unbestimmte Antwort. »Zuerst werden wir in Richtung Süden marschieren, um Cardona zu signalisieren, dass wir noch leben. Wo hast du den Spiegel?«
»Im Rucksack.«
Henry und Delgado kehrten zur Maschine zurück, warfen sich ihre Seile um die Schultern, steckten etwas Proviant ein und nahmen den Spiegel aus dem Rucksack. Dann umarmten sie ein letztes Mal Jimmie und Mary, die einsam und verlassen am Ende der Welt zurückbleiben würden.
»Vertraut uns!«, war das Einzige, was sie ihnen sagen konnten. »Wir holen euch hier schon runter.«
Ohne Eile marschierten sie Richtung Süden los, bis sie nur noch zwei winzige Punkte am Horizont waren.
»Ich vertraue darauf, dass Gott ihnen beisteht«, sagte Mary. Als sie keine Antwort erhielt, warf sie einen Blick auf das bleiche Gesicht ihres Mannes.
»Was hast du?«, fragte sie besorgt.
»Mein Knie tut weh«, antwortete Jimmie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Die alte Wunde. Aber das ist es nicht, was mir Sorgen macht…« Er sah ihr in die Augen. »Wirst du mir verzeihen?«
»Dir verzeihen?«, wiederholte sie erstaunt. »Was denn?«
»Dass ich dich hierher geschleift habe. Sieh dir unser Flugzeug an. Es war das Einzige, was wir besaßen, und jetzt wird es für immer hier oben bleiben. Ich habe uns wieder einmal ruiniert.«
»Wovon redest du eigentlich?«, entgegnete sie. »Schließlich warst du es, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um genug Geld zusammenzukratzen, damit wir die Maschine kaufen und auf diesem Berg landen können.« Sie zeigte auf das Wrack. »Und hier sind wir!«
»Aber in welchem Zustand…«
»Ist doch egal! Natürlich wäre es besser gewesen, wenn wir nicht in diesem blöden Schlammloch stecken geblieben wären, aber immerhin sind wir mit dem Leben davongekommen.«
»Und damit gibst du dich zufrieden?«
»Na klar! Wären wir in voller Fahrt im Morast stecken geblieben, wäre jetzt die Hälfte von uns wahrscheinlich tot und die andere schwer verletzt. So musst du es sehen! Wir haben verdammtes Glück im Unglück gehabt.«
»Du bist wirklich unglaublich«, antwortete der König der Lüfte bewundernd. »Wir sitzen hier auf dem Gipfel eines Tafelberges, von dem wir nicht mehr herunterkommen, und du redest von Glück.«
»Verdammtes Glück sogar«, beharrte sie. »Sag mir, was wäre passiert, wenn wir mit hundert Kilometern in der Stunde im Schlamm stecken geblieben wären?« Als sie keine Antwort darauf erhielt, fügte sie hinzu: »Dann wäre nichts von uns übrig, hab ich Recht?«
»Ja.«
»Was gibt es dann zu bedauern?«
»Nichts, nur dass ich es bisher nicht richtig zu schätzen wusste, was für eine faszinierende Frau du bist. Wenn ich nicht so viele Flausen im Kopf gehabt hätte, könnten wir jetzt ein glückliches Leben führen.«
»Vielleicht aber auch nicht«, erklärte Mary, während sie zum Flugzeug ging und begann, Proviant und Kochgeschirr auszuladen, um ihnen etwas zu essen zu machen.
»Hätten wir ein stinknormales Leben geführt, dann hätten wir das, was wir haben, gar nicht zu schätzen gewusst.«
»Glaubst du?«
»Alles ist möglich.« Mary setzte sich neben ihn und zündete den kleinen Spirituskocher an, den sie mitgebracht hatte. »Ich liebe dich, aber ich glaube, dass dein Mut und deine Hartnäckigkeit eine große Rolle dabei spielen. Ein gewöhnlicher Mann hätte in mir niemals solche Gefühle geweckt.«
»Auch wenn du mich jetzt am Boden siehst wie einen Versager?«
»Wieso Versager?«, wiederholte sie und zeigte auf den Horizont. »Ein paar Kilometer weiter liegt der schönste Wasserfall der Welt, der bis in alle Ewigkeit deinen Namen tragen wird. Salto Angel. Wie viele Versager haben das geschafft?«
»Trotzdem sind wir so pleite wie noch nie.«
»Ich kenne eine Menge Millionäre, die nichts als ihr Geld haben«, entgegnete Mary Angel entschieden. »Wir haben uns, ein intensives Leben und diesen Wasserfall. Das ist mehr als alles Geld auf der Welt.«
»Meinst du das im Ernst oder sagst du es nur, um mich zu trösten?«
»Wenn ich dich in einem Augenblick wie diesem trösten wollte, hätte ich keinen Respekt mehr vor dir«, erklärte Mary. »Zugegeben, wir haben einen kleinen Rückschlag erlitten, aber wir werden ihn überwinden.«
»Einen kleinen Rückschlag?«, wiederholte Jimmie grimmig. »Das nennst du einen kleinen Rückschlag? Wir besitzen nur noch das, was wir am Leib tragen.«
»Wie viele Flugzeuge hast du in deinem Leben zu Schrott geflogen?«, fragte sie. »Acht, zehn, zwölf? Das waren alles Rückschläge und jedes Mal hast du sie überwunden. Das hier ist genau dasselbe, nicht mehr und nicht weniger.«
Wie soll man mit einer Frau diskutieren, die auf alles eine Antwort weiß?
Wie jemanden ermutigen, der selbst der Inbegriff des Mutes ist?
Wie konnte er sie um Verzeihung bitten, dass er sie in diese aussichtslose Lage gebracht hatte, wenn sie so gelassen das Essen zubereitete, als hätten sie ein gemütliches Picknick auf dem Land vor?
Mary aß mit gesundem Appetit und sah keineswegs so aus, als säßen sie auf dem Gipfel des Teufelsfelsen und hätten so gut wie keine Aussichten auf Rettung. Sie verzichtete nicht einmal auf ihren Kaffee, den sie wie üblich in kleinen Schlucken genoss.
Am Ende zündete sie sich eine Zigarette an, was sie nur zu besonderen Anlässen tat, und rauchte genüsslich, während sie die Landschaft betrachtete.
»Herrlich!«, sagte sie schließlich. »Einfach herrlich! Ist es nicht ein seltsames Gefühl zu wissen, dass wir die ersten Menschen auf diesem Berg sind?«
»Das fände ich eher beunruhigend«, antwortete er. »Wenn es so wäre, hieße das nämlich, dass es nicht McCrackens Berg ist.«
»Das ist er auch nicht«, antwortete sie bestimmt. »Du weißt es, seit wir gelandet und aus der Maschine geklettert sind. Und ich weiß es seit dem Augenblick, als ich gesehen habe, was für ein Gesicht du gemacht hast.«
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