»Du bist ein komischer Vogel, Jimmie. Wirklich komisch! Du verachtest den Ruhm, den dir deine Entdeckung eingebracht hat, und opferst alles für Gold und Diamanten, die du offensichtlich ebenso verachtest. Wer soll dich verstehen können?«
»Ich kann es, und das genügt mir!«, antwortete der Pilot grinsend. »Ich habe nur den einen sehnlichen Wunsch, noch einmal da oben zu landen und so eine Nacht zu erleben wie damals. Dann kann ich den Rest meines Lebens in Frieden verbringen. Alles andere kommt mir dagegen nur nebensächlich vor.«
»In diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig, als dir viel Glück zu wünschen. Aber nimm dich in Acht vor diesem Berg.«
Auf dem Rückflug ins CamarataTal flog Jimmie zum xten Mal über den Tepui, durch die Teufelsschlucht und so dicht an den Wasserfall heran, dass das Wasser auf seine Windschutzscheibe spritzte. Als er eine halbe Stunde später auf dem Feld landete, wo sie ihr improvisiertes Lager aufgeschlagen hatten, versammelte er die ganze Mannschaft vor einem Tisch, auf dem alle Fotos und Karten ausgebreitet lagen.
»Sobald der Wind sich legt, werde ich versuchen, auf dem Tepui zu landen«, erklärte er.
Die vier sahen sich vielsagend an. Schließlich ergriff Henry das Wort.
»Du meinst, wir werden versuchen, auf dem Tepui zu landen«, berichtigte er ihn. »Du wirst verstehen, dass wir dich nicht allein das ganze Risiko tragen lassen.«
»Warum nicht?«
»Weil Delgado und ich die Einzigen wären, die dir runterhelfen könnten, wenn du aus irgendeinem Grund nicht wieder starten kannst.«
»Und wenn ich es doch kann?«
»Dann wäre niemand ein Risiko eingegangen«, sagte Gustavo Henry lächelnd und zeigte auf die dunkle Wand. »Außerdem will ich um nichts auf der Welt auf dieses Spektakel verzichten. Ein einziges Mal im Leben möchte ich ganz oben auf dem Gipfel sitzen und auf den Wasserfall hinabsehen.«
»Aber…«
»Kein Aber mehr«, unterbrach ihn Henry. »Wir haben es gemeinsam beschlossen, als du in Kawanayen warst. Ich darf dich daran erinnern, dass du in unserer Schuld stehst. Und das ist der Preis, den du bezahlen musst. Auf dem Gipfel dieses Berg zu stehen, bedeutet mir mehr als alle Diamanten der Welt.«
»Und wie steht es mit meiner Verantwortung als Pilot des Flugzeugs?«
»Komm mir bloß nicht mit so was«, entgegnete Henry wegwerfend. »Deine Verantwortung endet da, wo ich dich bitte, mich mitzunehmen.«
»Und Delgado?«
»Delgado redet nicht viel. Trotzdem würde er wie wir alle auch sein Leben dafür geben, einmal auf diesem Berg zu stehen.«
An Cardona gewandt fragte Jimmie: »Du auch?«
»Na klar«, antwortete der wie aus der Pistole geschossen. »Aber ich kann warten. Es wäre nur gerecht, wenn ich Mary den Vortritt lasse.«
»Kommt nicht infrage!«, platzte Jimmie heraus, wie von der Tarantel gestochen. »Mary fliegt nicht mit!«
»Wenn Mary nicht mitfliegt, dann fliegt überhaupt keiner mit«, mischte sich seine Frau ein. Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu.
»Wie bitte?«, fragte Jimmie verblüfft.
»Du hast mich schon verstanden.«
»Wie kommst du darauf?«
»Seit Jahren bin ich immer am Boden geblieben. Ich habe Todesängste ausgestanden und so getan, als sei alles in Ordnung, nur damit du deinen Willen bekommst. Wenn du jetzt meinst, du könntest mich einfach links liegen lassen, bist du auf dem Holzweg.«
»Aber das ist viel zu gefährlich!«
»Was du nicht sagst. Ich gehe das Risiko ein. Wenn du stirbst, sterben wir beide. Und wenn du noch so eine Nacht verbringen willst wie damals, von der du, seit ich dich kenne, schwärmst, als hätte sie im siebten Himmel stattgefunden, dann will ich dabei sein.«
»Nein!«
»Jawohl!«
»Ich habe nein gesagt, und damit basta. An Bord habe immer noch ich das Sagen.«
»Mag sein«, entgegnete sie mit eisiger Ruhe. »Aber was mein Leben angeht, da habe ich das Sagen. Wenn du ohne mich startest, bin ich nicht mehr da, falls du zurückkommst, das schwöre ich dir.«
»Nimm doch Vernunft an!«
»Ich denke gar nicht daran. Ich habe mich für dich geopfert, mir seit Jahren kein einziges neues Kleid geleistet und als Lohn willst du mich jetzt hinauskomplimentieren? Ich soll auf ein Ereignis verzichten, das vielleicht das größte in meinem Leben sein wird? Kommt nicht infrage!«
»Es ist doch nur zu deinem Besten!«
»Was am besten für mich ist, entscheide immer noch ich. Und ich will mit.«
»Das könnt ihr mir doch nicht antun!« Jimmie stöhnte und drohte zum ersten Mal im Leben die Beherrschung zu verlieren. »Ihr habt kein Recht, mich bis hierher zu locken, mich vom Honig kosten zu lassen und dann zu verlangen, dass ich das Unternehmen aufgebe, obwohl ich es schon so lange verfolge.«
»Keiner von uns verlangt, dass du irgendetwas aufgibst«, berichtigte ihn Cardona geschickt. »Wir wollen dich nur dazu bringen, das Risiko mit uns zu teilen.«
»Das Risiko?«, fragte Jimmie. »Hast du eine Ahnung, was es heißt, von da oben zu starten und erst mal siebenhundert Meter im Sturzflug hinzulegen?«
»Ja, hab ich«, versicherte Cardona selbstbewusst. »Ich bin selbst Pilot, vergiss das nicht, und daher weiß ich, dass die Maschine es aushalten wird. Dieses Flugzeug macht seinem Namen alle Ehre.«
»Mit drei verdammten Passagieren an Bord?«
»Jetzt werd nicht unverschämt!«, schimpfte seine Frau. »Und stell dich nicht so blöd an. Du weißt genau, dass wir Recht haben. Entweder fliegen alle mit, oder wir fahren alle nach Hause und vergessen die ganze Geschichte ein für alle Mal.«
Jimmie wäre fast geplatzt vor Wut, doch dann überlegte er es sich anders. Er sprang auf und trat gegen den Klappstuhl, auf dem er gesessen hatte. Dann trabte er wie ein einsamer Steppenwolf hinunter zu einem kleinen Fluss mit dunklem Wasser, der nur wenige Meter vom Lager entfernt vorbeifloss.
Nachdenklich folgte er seinem Lauf, bis er zu der Quelle in einer Grotte am Fuß der Steilwand kam. Dort sprang er ins tiefe Wasser. Hätte er sich während der Trockenzeit hierher verirrt, wenn der Fluss fast kein Wasser führte, hätte er in die Grotte hineingehen können. Natürlich ahnte er nicht, dass es sich um die sagenhafte KavácHöhle handelte, die erst ein halbes Jahrhundert später entdeckt werden sollte und neben dem Salto Angel heute zu den wichtigsten Touristenattraktionen von Venezuela gehört.
Sie hatten ihr Lager keine drei Kilometer entfernt aufgeschlagen und wochenlang bloß einen Steinwurf davon entfernt gelebt. An jenem Nachmittag badete Jimmie keine zwanzig Meter vom Eingang der Grotte entfernt, doch diesmal schien das launische Schicksal, das ihm zuvor den Wasserfall offenbart hatte, nicht gewillt, ihm zu zeigen, was vor seinen Augen lag.
Die KavácHöhle besteht größtenteils aus einer riesigen Grotte, so hoch und so breit wie eine in Stein gehauene Kathedrale. Auf der Höhe ihrer Kuppel gibt es eine Öffnung, nicht größer als zehn Meter. Von hier stürzt ein Wasserstrahl, vermischt mit funkelnden Sonnenstrahlen, in die Tiefe.
Etwas unterhalb des kleinen Sees, in den der Wasserfall mündet, schlängelt sich das Wasser durch eine hohe Schlucht, deren Wände wie mit dem Messer gezogen scheinen, bahnt sich einen Weg durch eine weitere schmale Grotte und gelangt schließlich zur Gran Sabana, wo es in den unbändigen Río Caroní mündet und dann vom majestätischen Orinoco bis zum Meer getragen wird.
Doch das wären zu viele Entdeckungen für einen einzelnen Menschen gewesen. Diesmal zog die Natur es vor, ihr Geheimnis noch ein weiteres halbes Jahrhundert für sich zu behalten.
Henry hatte nach Jimmies unvermitteltem Wutausbruch lange Zeit geschwiegen. Schließlich aber fragte er sichtlich besorgt: »Und was passiert jetzt?«
»Gar nichts!«, antwortete Mary Angel zuversichtlich.
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