Nicht der erfahrenste Bergsteiger hätte dieses allerletzte Hindernis überwinden können: eine steile, glatt polierte Felswand, die keinerlei Halt bot.
»Félix!«, schrie Jimmie von oben. »Félix? Kannst du mich hören?«
»Ja, ich höre dich!«, antwortete der andere aus weiter Ferne.
»Lauf zur Missionsstation in Kawanayen und hol Pater Orozco!«
»Wozu? Er kann auch nichts tun!«
»Vielleicht hat er eine Idee, wie man uns ein paar Seile hochwerfen könnte.«
»Ihr seid zu hoch!«, schrie der andere zurück.
»Versuch es trotzdem!«
»Ich brauche mindestens zwei Tage, bis ich wieder da bin!«
»Macht nichts, wir halten so lange durch!«
»Na schön!«
Félix Cardona rannte los.
Sie sahen, wie er den steinigen Hang hinunterlief, auf die weite Ebene gelangte und sich endlich auf dem Weg zur Missionsstation in der Ferne verlor.
»Er wird es nicht rechtzeitig schaffen«, murmelte Henry hoffnungslos.
»Das hängt nur von uns ab«, erwiderte Jimmie überzeugt. »Wenn wir es bis hierher geschafft haben, werden wir uns auch jetzt nicht von diesem verfluchten Berg unterkriegen lassen. Nur ein Katzensprung trennt uns vom Leben!«
»Ein Katzensprung?«, entgegnete Delgado. »Das nennst du einen Katzensprung?«
»Nenn es, wie du willst! Wir werden es trotzdem schaffen.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Delgado entmutigt. »Aber wenigstens wird Cardona nicht mitansehen müssen, wie wir langsam krepieren.«
Niemand sagte etwas darauf, denn ganz offensichtlich gab es nichts zu sagen.
Sie tranken das letzte Wasser, das sie hatten, und legten sich hin. Ihre Körper waren dermaßen erschöpft, dass man hätte meinen können, sie wären bloß noch Marionetten, deren Fäden man abgeschnitten hatte.
Marys Haar war über Nacht weiß geworden.
Neun Tage des Grauens waren zu lang für den Todeskampf. Weder die Raubtiere im Dschungel noch sonst ein ihrer Einbildung entsprungenes Ungeheuer hätte ihnen so viel Angst einjagen können wie dieser menschenverschlingende Schlund.
Sich ins Nichts zu stürzen ist für die meisten Menschen ein Albtraum, weil sie wissen, dass man gegen die Schwerkraft nichts ausrichten kann.
Daher ist der Traum, fliegen zu können, im Grunde genommen nichts anderes als der Wunsch, die Angst vor dieser Macht zu bezwingen. So vollkommen und sicher die Flugzeuge auch gebaut sein mögen, im tiefsten Innern weiß jeder Pilot, dass die allmächtige Hand der Schwerkraft früher oder später Mensch und Maschine zurück auf den Boden der Tatsachen holen wird.
Ausgelaugt, der unerbittlichen Sonne schutzlos ausgeliefert, spürten sie ihre Körper nicht mehr und empfanden weder Hunger noch Durst.
Wer hat schon Hunger, wenn er im nächsten Augenblick von einem Löwen verschlungen wird?
Wer denkt ans Essen, wenn unzählige Gespenster um ihn herumschwirren?
Welches körperliche Verlangen ist stärker als die Angst vor dem Tod?
Und ein Sturz aus achtzig Metern Höhe ist genauso tödlich wie einer aus tausend Metern.
Ein sicherer Tod, höchstens weniger spektakulär.
Während Mary beobachtete, wie die Reiher unter lautem Geschrei zu ihren Nestplätzen zurückkehrten, ehe die Nacht einbrach und sie verstummen ließ, dachte sie darüber nach, warum sie ihrem ersten Impuls nicht gefolgt war und sich von der Höhe des Tafelbergs in die Tiefe gestürzt hatte.
Vielleicht wären dann ihr Mann und die beiden anderen am Leben geblieben.
Vielleicht hätten sie es geschafft, wenn sie ihnen nicht zur Last gefallen wäre.
Vielleicht… Sie warf ihnen einen mitfühlenden Blick zu.
Wie wenig von ihrer einstigen Kraft war ihnen geblieben!
Wie wenig von ihrer beneidenswerten Jugend hatten sie noch!
Sie waren wie lebende Tote. Der Berg hatte ihnen ihre Zuversicht aus dem Leib geprügelt, ihnen die Haut vom Körper gerissen und ihnen den Glanz aus den Augen geraubt.
»O Herr, o Herr!«, flüsterte sie bei sich. »Warum hast du zugelassen, dass wir es bis hierher schaffen, wenn du gar nicht daran dachtest, uns zu retten?«
Der Wind heulte.
Ihr ärgster Feind.
Er konnte sie von ihrem Felsvorsprung fegen wie Blätter von einem Baum.
Mit dem Untergang der Sonne trug der Wind auch die Kälte herbei.
In dieser Nacht hatte Mary große Angst. Nicht vor dem Tod, der längst zu ihrem ständigen Begleiter geworden war. Es war die Angst, im letzten Augenblick den Glauben an einen Gott zu verlieren, der bald über sie zu richten hätte.
Sie wusste, dass sie mehr verlieren würde als nur das Leben, wenn sie ihn im Tod verfluchte; doch die Probe, auf die er sie stellte, war so brutal und ungerecht, dass selbst jemand, der gläubiger gewesen wäre als sie, an seiner Gnade gezweifelt hätte.
Der Wind nahm zu.
Ein für alle Mal schien er sie vom Berg vertreiben zu wollen.
Jimmie verhakte seinen Arm trotz der Gefahr, ihn zu brechen, zwischen zwei Felsen. Mit dem anderen zog er Mary an sich, fest entschlossen, die ganze Nacht dem sich zusammenbrauenden Sturm zu trotzen.
Fest entschlossen, sich und die Frau, die er liebte, zu retten. Wenn der Wind sie ihm entreißen wollte, dann musste er ihm schon die Arme brechen.
Träume kamen ihm diesmal nicht zu Hilfe.
Nur Halbschlaf.
Augenblicke, in denen er kurz einnickte, immer wieder abgelöst von langen Stunden des Wachens.
Schöne Erinnerungen blitzten auf, wurden jedoch von der finsteren Realität des Abgrunds sofort verdrängt, der jetzt zwar unsichtbar, aber trotzdem so nah war, dass nicht einmal die schwarze Nacht ihn aus Jimmies Bewusstsein zu vertreiben vermochte.
Es wurde eine höllische Nacht.
Grausam wie alle anderen Nächte zuvor, nur war er sich jetzt nicht mehr des Ausmaßes der Grausamkeit bewusst.
Im Morgengrauen lag Mary im Delirium.
Der Tod kam mit Siebenmeilenstiefeln auf sie zu.
Jimmie drehte sich um und warf Henry und Delgado einen Blick zu in der Hoffnung, sie hätten sich über Nacht so weit erholt, dass sie einen weiteren Versuch wagen könnten. Doch er sah sofort, dass sie nicht mal mehr Kraft hatten aufzustehen.
Er lehnte den Kopf gegen die Felswand, fuhr seiner bewusstlosen Frau sanft über das Haar und schloss die Augen. Plötzlich, ohne dass er wusste warum, kamen ihm einige Sätze in den Sinn, die sein Freund Dick Curry in seinem schlichten Tagebuch hinterlassen hatte.
Wer wird mein Grab schaufeln? Wer meinen Namen auf das Kreuz schreiben?
Ich liebe dieses Land, obwohl ich weiß, dass es mich umbringen wird; so wie ich Ketty liebte, obwohl ich wusste, dass sie mich am Ende verlassen würde .
Er hat nie erfahren, wie lange er mit geschlossenen Augen reglos dagelegen hatte. Als er sie wieder aufschlug und den Blick über die trostlose Savanne schweifen ließ, fing sein Herz plötzlich an zu pochen.
Weniger als einen Kilometer entfernt marschierte eine Gruppe von nackten Indianern auf sie zu.
»Seht!«, rief er. »Seht nur!«
Henry und Delgado schienen nur unter größter Mühe aus einem Albtraum zu erwachen. Sie schüttelten den Kopf, rieben sich die Augen und starrten in die Richtung, in die Jimmie zeigte.
»Wer mag das sein?«, fragte Jimmie.
»Menschenfresser«, antwortete Delgado.
»Bist du sicher?«
»Nein. Wie könnte ich? Sie sind viel zu weit weg.« Er drehte sich zu Henry um. »Was meinst du?«
»Ich kann nichts erkennen. Außerdem, was spielt es schon für eine Rolle? Sie können uns weder auffressen noch helfen.«
»Wenn es guaharibos wären, könnten sie uns helfen«, sagte der andere leise.
»Großer Gott!«, rief plötzlich sein Kollege. »Du hast Recht! Die guaharibos könnten uns tatsächlich helfen. Aber was macht eine Gruppe von guaharibos so weit weg von ihrem angestammten Gebiet?«
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