Sie lacht und breitet die Hände aus. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte als Junge zur Welt kommen sollen. ›Stark wie eine Ziege, wild wie eine Amsel.‹« Sie wird traurig, als sie sich an Mutters altes Sprichwort erinnert. Heute fühlt sie sich nicht mehr stark und wild.
Er hat die Dose schließlich geöffnet und hält sie ihr hin. Sie nimmt eine Handvoll Apfelscheiben heraus. Mr. Harrow will an ihr vorbei aus der Kombüse schlüpfen, doch sie hält ihn zurück.
»Warten Sie.« Sie betrachtet ihre Hand auf seinem Unterarm, als wäre es nicht ihre. Ihr war nicht klar, dass sie mit ihm sprechen würde, ein plötzlicher Impuls hat sie überkommen.
Er wartet, und ein kleines Stück Zeit bindet sie erwartungsvoll aneinander.
Dann sagt sie: »Meggy hat mir von Ihrer Frau erzählt.«
Und da ist er: der nackte Schmerz, den sie unbedingt auf seinem Gesicht sehen wollte. Endlich hat sie jemanden gefunden, der Bescheid weiß. Zu ihrem Entsetzen kräuseln sich ihre Mundwinkel nach oben, als wollte sie lächeln. Sie wird rasch ernst.
Doch dann ist die Verletzlichkeit in Mr. Harrows Gesicht verschwunden, verborgen hinter einer sorgfältig gekünstelten Akzeptanz. »Ja, ich habe Mary verloren. Es war schwer. Aber das Leben muss weitergehen.«
»Muss es das?«
Ihre Frage verblüfft ihn. Er will etwas sagen, tut es aber nicht. Er schweigt, die Lippen leicht geöffnet.
»Mein Sohn Daniel ist vor beinahe drei Jahren gestorben«, stößt sie hervor. »Er war fünfzehn Tage alt. Vollkommen gesund, er gedieh gut. Dann habe ich eines Morgens spät die Augen geöffnet – zu spät, es war zu hell – und mich gefragt, weshalb er mich nicht geweckt hatte. Er hatte mich nicht geweckt, weil er tot war, Mr. Harrow, tot und kalt.« An dieser Stelle bricht ihre Stimme, und sie legt die Hand auf den Mund, um die Tränen zu unterdrücken. »Weil ich außer mir vor Kummer war, hat die Familie meines Mannes dafür gesorgt, dass das Kind in meiner Abwesenheit begraben wurde. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden.«
»Oh, meine liebe Mrs. Winterbourne«, sagt er und löst sanft ihre Hand vom Gesicht und hält sie in seinen rauhen Fingern. »Es ist schrecklich, einen geliebten Menschen zu verlieren, aber die Sonne wird ganz bestimmt wieder scheinen.«
»Das kann sie nicht.« Sie zweifelt an ihm. Er hat nur seine Frau verloren, nicht sein Kind. Was kann er von ihrem Schmerz wissen?
Mr. Harrow sucht nach Worten. Das Schiff kippt in ein tiefes Wellental, dass die Kochtöpfe gegeneinanderschlagen. Schließlich sagt er: »Diese Traurigkeit hinterlässt nicht nur blaue Flecken, die irgendwann verbleichen. Sie zerstört. Man kann nur alles Stein für Stein wieder aufbauen. Und manchmal hat man nicht die Kraft oder den Willen und sitzt zwischen den Ruinen und wartet, dass sich etwas ändert. Aber es wird sich nichts ändern, solange wir nicht wieder aufstehen und die Steine aufsammeln.«
Ihr Herz wird heller und wieder dunkler, während er spricht: Hoffnung, Verzweiflung, Hoffnung, Verzweiflung, Wolken, die rasch an der Sonne vorbeiziehen. Er versteht sie, sagt aber, dass sie versuchen müsse, sich zu erholen. Weiß er denn nicht, dass sie Daniel ein zweites Mal verliert, wenn sie sich von seinem Tod erholt? Es wäre wie Vergessen.
Doch sie hat sich nach solch tröstlichen Worten gesehnt, und vielleicht hat auch Mr. Harrow sich eine verwandte Seele gewünscht, mit der er seinen Kummer teilen kann. Sie stehen einen Augenblick lang da, die Hände verschränkt, Tränen in den Augen. Und dann kommt Meggy herein.
»Oh«, sagt sie und registriert mit blassen Augen ihre Haltung, die verschlungenen Hände, den suchenden Blick. Zuerst versteht Isabella nicht, was das bedeutet: Der Augenblick, den sie und Mr. Harrow miteinander teilen, hat nichts Romantisches. Doch, bei Gott, es sieht so aus.
Mr. Harrow lässt entsetzt ihre Hände fallen – denn Isabella argwöhnt, dass er für Meggy schwärmt –, weicht einen Schritt zurück und stößt sich den Kopf an einer Kupferpfanne.
»Warte, Meggy«, sagt Isabella, doch diese hat schon auf dem Absatz kehrtgemacht und ist davongeeilt.
Mr. Harrow reibt sich den Kopf. »Ich sollte besser gehen.«
Isabella nickt und bleibt allein in der Kombüse. Sie fragt sich, wann sie die unvermeidlichen Konsequenzen zu spüren bekommt.
***
Der Geruch nach geschmortem Fleisch dringt aus der Kombüse bis in den Salon, wo Isabella alleine mit ihrem Stickrahmen sitzt. Sie hat an diesem Abend viele Fehler gemacht und so viel Zeit damit verbracht, falsche Stiche aufzutrennen, dass sie gar nicht erst mit der Arbeit hätte beginnen müssen. Meggy ist nirgendwo zu sehen. Isabella hat die schwache Hoffnung, dass sie die Szene mit Mr. Harrow für sich behalten wird. Doch diese Hoffnung ist nicht von Dauer, denn in der Dämmerung poltert Arthur die Treppe herunter und steht kurz darauf vor ihr, die Augenbrauen so stark zusammengezogen, dass finstere Schatten über sein Gesicht fallen. Isabella legt den Stickrahmen beiseite und versucht, nicht zu blinzeln oder zusammenzuzucken oder in irgendeiner Weise zu zeigen, dass sie weiß, was ihr bevorsteht.
»Was ist denn los, Arthur?« Sie zwingt ihre Hände, still zu sein, greift nach einem Streichholz und entzündet die Öllaterne über ihrem Kopf, bevor sie leise die Klappe schließt.
Einen Moment lang fehlen ihm die Worte. Er stottert und spuckt und sagt dann schließlich: »Ich werde nicht dulden, dass du einem anderen Mann solche Aufmerksamkeit entgegenbringst.«
Sie täuscht weiterhin Verwunderung vor, spürt Meggys Verrat jedoch wie einen Stich. »Ich habe dir keinen Anlass dazu gegeben und werde es auch nicht tun«, erwidert sie gelassen.
»Jetzt spiel hier nicht die Unschuld!«, brüllt er, und sie stellt sich vor, dass es alle unter Deck bis hin zum Mannschaftsquartier hören können. Das Schiff mag hundertsechzig Fuß lang sein, aber unter Deck ist alles eng beieinander. Arthur spürt, dass er sich kompromittiert, und senkt die Stimme. »Meggy hat dich mit Harrow gesehen.«
»Mr. Harrow hat mich getröstet«, sagt sie. »An seiner Berührung war nichts, das die Grenzen ganz gewöhnlichen menschlichen Mitgefühls überschritten hätte.«
»Weswegen hat er dich getröstet?« Er sagt es in einem so verblüfften Ton, als glaubte er tatsächlich, dass sie keines Trostes bedürfe.
In diesem Moment verspürt sie einen brennenden Hass, weil er so blind und gänzlich ohne Mitgefühl ist. »Mr. Harrows Frau ist gestorben. Ich dachte, er könnte verstehen, was ich wegen Daniels Tod empfinde.«
»Was du empfindest, Isabella, solltest du nicht fremden Männern auf einem Schiff …«
»Einem Mitmenschen, der ebenfalls einen schweren Verlust erlitten hat«, sagt sie und schneidet ihm damit das Wort ab, obwohl sie weiß, dass er diese Eigenschaft am meisten an ihr verachtet. Isabella, du solltest mir zuhören und weniger reden.
Arthur stottert noch ein bisschen und läuft in dem kleinen Raum auf und ab, seine Schuhe klappern auf dem Holz. Der Geruch von Regen und Rauhreif ist stark, und sie denkt an das ruhelos tosende Meer dort draußen, und auch in ihren Eingeweiden tost es ruhelos.
Schließlich sagt er: »Der Tod des Kindes hat dich nicht zu etwas Besonderem gemacht, Isabella. Du bist immer noch die Frau, die du warst. Du verdienst keine besondere Behandlung, du stehst nicht über den Regeln der Gesellschaft.« Sein Blick wandert zu ihrem Handgelenk. »Immerhin hast du das verschlissene Band abgenommen.«
Sie sträubt sich, beißt aber nicht.
Er reckt die Schultern und zuckt mit den Nasenflügeln. »Du wirst unter Deck bleiben, bis wir Sydney erreichen.«
»Was? Nein!«
»Du bleibst im Salon oder in unserer Kajüte. Leistest Meggy Gesellschaft. Mir ist egal, was du tust. Aber halte dich von der Mannschaft fern. Wahre den Anstand. Und suche nicht Trost für alte Wunden, die längst verheilt sind, nur um die Aufmerksamkeit auf dich zu lenken.«
Читать дальше