Der Sergeant sagte nichts, aber es war ihm anzumerken, daß er den Optimismus seines Vorgesetzten nicht teilte. Ajamuk war Beduine. Er kannte die Tuareg gut, genausogut wie seine Soldaten, die aus dem bergigen Norden des Landes stammten und hier ihren Militärdienst leisteten. Die Wüste verstanden sie nicht und hatten auch keine Lust, sie zu verstehen. Ajamuk bewunderte den Leutnant und rechnete es ihm hoch an, daß er keine Mühe scheute, sich den Lebensbedingungen in diesem Landesteil anzupassen. Offenbar war er fest entschlossen, ein echter Sahara-Experte zu werden, aber er mußte noch viel lernen, das war klar. Die Sahara und ihre Bewohner konnte niemand innerhalb eines Jahres verstehen lernen, nicht einmal in zehn. Und die Mentalität auch nur eines jener schlauen »Söhne des Windes« begreifen zu wollen, war sogar ein völlig aussichtsloses Unterfangen, obwohl diese Burschen nach außen hin ein so einfaches Leben führten. In Wirklichkeit waren sie jedoch äußerst komplizierte Menschen.
Ajamuk griff nach dem Fernglas, das auf dem Beifahrersitz lag, und richtete es auf den Punkt am Horizont, der immer kleiner wurde. Da war er wieder, der Targi mit seinem Kamel, das mit wiegenden Schritten hinter ihm herging. Warum begab er sich wieder mitten in diesen gräßlichen Backofen hinein? Ajamuk wußte keine Antwort darauf, aber er ahnte, ja er spürte fast körperlich, daß sich dahinter irgendeine List verbarg. Wenn sich ein Targi und sein Kamel mit so wenig Wasser überhaupt von der Stelle rührten, dann gab es dafür mit Sicherheit einen triftigen Grund. Ein hoher Pfeifton riß ihn aus seinen Grübeleien. Er sprang auf und schrie: »Die Moskitos! Los, machen wir, daß wir wegkommen!«
Sie sprangen in die Jeeps. Schon mußten sie sich mit den Armen fuchtelnd der Insekten erwehren. So schnell, wie es das unwegsame Gelände erlaubte, ließen sie den Salzsee hinter sich. Nach einer Weile fuhren zwei der Jeeps in entgegengesetzter Richtung davon.
Leutnant Rahman befahl seinen Männern, das Lager aufzuschlagen und Essen zu machen. Dann setzte er sich per Funk mit Sergeant Malik-el-Haideri in Verbindung, um ihn über seinen Standortwechsel und die Richtung zu informieren, die der Targi eingeschlagen hatte.
»Ich habe auch keine Ahnung, was der vorhat, Herr Leutnant«, gab Malik zu. »Aber eines weiß ich genau: Der Kerl ist sehr gerissen. Vielleicht ist es doch am besten, ihm zu folgen und ihn draußen auf dem Salzsee zu schnappen.«
»Wahrscheinlich will er uns genau dazu bringen«, erwiderte Rahman. »Vergessen Sie nicht, wie gut er zielen kann! Er hat nicht nur ein Gewehr, sondern auch ein Kamel. Zu Fuß hätten wir keine Chance gegen ihn, und deshalb müssen wir abwarten.«
Sie machten die ganze Nacht kein Auge zu. Zu ihrer Erleichterung schien der Mond sehr hell. Mit entsicherten Gewehren hielten sie Wache und zuckten beim geringsten Geräusch, das ihnen verdächtig vorkam, zusammen.
Doch es geschah nichts. Als sie Sonne über dem Horizont aufging, kehrten sie zum Ufer des Salzsees zurück. Von dort aus erblickten sie, fast genau in der Mitte, das Mehari, das sich auf dem Boden ausgestreckt hatte, und den Targi, der ruhig im Schatten seines Reittieres schlief.
Aus allen vier Himmelsrichtungen waren den ganzen Tag über an vier fast gleich weit voneinander entfernten Stellen vier Ferngläser auf die Stelle gerichtet, aber weder der Reiter noch das Kamel machten eine aus dieser Distanz wahrnehmbare Bewegung.
Als sich wiederum der Abend herabsenkte, kurz bevor die Moskitos aus ihren Schlupfwinkeln auszuschwärmen pflegten, beriet sich Leutnant Rahman mit seinen Männern. »Er hat sich nicht bewegt«, meinte er. »Was haltet ihr davon?«
Sergeant Malik mußte daran denken, was der Targi zu ihm gesagt hatte: Man muß leben wie ein Stein und darauf achten, keine Bewegung zu machen, die Wasser verbraucht… Sogar nachts mußt du dich so langsam bewegen wie ein Chamäleon. Wenn du es schaffst, dich unempfindlich gegen Hitze und Durst zu machen, und wenn es dir sogar gelingt, die Angst zu besiegen und Ruhe zu bewahren, dann hast du eine kleine Chance zu überleben.
»Er geht sparsam mit seinen Kraftreserven um«, meinte Malik am Funkgerät zu Leutnant Rahman. »Aber heute nacht zieht er bestimmt weiter. Wenn wir nur wüßten, wohin.«
»Er braucht mindestens vier Stunden bis zum Ufer der sebkha« , schaltete sich Ajamuk ein. »Und es würde eine weitere Stunde dauern, bis er in der Dunkelheit die Böschung hinaufgeklettert ist und die Stelle erreicht hat, wo wir uns befinden.«
Ajamuk rechnete im Kopf nach. »Wir müssen erst ab Mitternacht besonders wachsam sein. Wenn er länger wartet, bleibt ihm nicht genug Zeit, um einen ausreichenden Vorsprung herauszuholen — falls er überhaupt den Salzsee überlebt.«
»Wahrscheinlich würde ihm das Kamel durchgehen«, meinte Saud, der im Süden Stellung bezogen hatte. »Hier bilden die Moskitos richtige Wolken. Außerdem muß es einen unterirdischen Zufluß geben. Wenn er dem zu nahe kommt, bricht er mit Sicherheit ein und geht unter.«
Insgeheim war Leutnant Rahman davon überzeugt, daß sich der Targi lieber von dem Salzsumpf verschlingen als lebendig einfangen lassen würde, doch diese Meinung behielt er für sich und beschränkte sich darauf, seinen Leuten Anweisungen zu geben: »Genau vier Stunden Schlaf«, sagte er, »aber danach höchste Alarmbereitschaft!«
Die Nacht wurde genauso lang und spannungsgeladen wie die vorangegangene.
Der Mond schien mit unverminderter Helligkeit auf das tischebene Land hinab, und als der Morgen graute, waren die Männer todmüde und erschöpft. Ihre Augen waren gerötet, denn sie hatten die ganze Zeit angestrengt in die Dunkelheit hinausgespäht. Die Belastung war so groß gewesen, daß sie nun fast mit den Nerven am Ende waren.
Wieder fuhren sie zum Ufer des Salzsees, und wieder sahen sie an derselben Stelle in unveränderter Haltung den Targi und sein Kamel. Allem Anschein nach hatten die beiden seit gestern nicht die geringste Bewegung gemacht.
Die Stimme des Leutnants hatte einen nervösen Unterton, als er in das Mikrofon des Funkgerätes rief: »Was haltet ihr davon?«
»Der muß verrückt sein!« ließ sich Malik schlechtgelaunt vernehmen. »Mit Sicherheit hat er kein Wasser mehr. Wie will er noch einen Tag in dieser Gluthitze überleben?«
Darauf wußte keiner der Männer eine Antwort. Sogar dort, wo sie sich befanden, außerhalb der Bodensenke, jagte ihnen der Gedanke an jeden weiteren Tag in dieser Hölle einen gehörigen Schrecken ein, obwohl in den großen Kanistern noch genügend Wasser war. Der Targi jedoch schickte sich offenbar an, auch heute wieder reglos liegenzubleiben und die Zeit an sich vorüberziehen zu lassen.
»Das ist der reinste Selbstmord«, murmelte der Leutnant vor sich hin. »Ja, er bringt sich um, und ich hätte nie geglaubt, daß ein Targi dazu in der Lage ist. Er riskiert die ewige Verdammnis!«
Nie war ein Tag so lang gewesen — und nie so heiß. Funkelnd warf das Salz die Sonnenstrahlen zurück und vervielfältigte ihre Kraft, so daß das winzige Sonnendach fast keinen Schutz bot. Der Targi und sein Mehari lagen wie vom Blitz getroffen. Er hatte dem Tier die Beine zusammengebunden, sobald es sich hingelegt hatte, und es schmerzte ihn in der Seele, dem Kamel solches Leid zufügen zu müssen, nachdem es ihn so viele Jahre lang in der Wüste über Stock und Stein getragen hatte.
Seine Gebete verrichtete er wie im Traum, und wie im Traum ließ er die Stunden verstreichen. Reglos lag er da. Er hätte nicht einmal eine Hand erhoben, um eine Fliege zu verscheuchen, aber Fliegen gab es hier ohnehin nicht. Wie hätten sie auch in einer solchen Hölle leben sollen?
Er setzte alles daran, um gleichsam zu einem Stein zu werden. Seit er den letzten Tropfen Wasser aus seiner gerba getrunken hatte, versuchte er nicht mehr daran zu denken, daß er einen Körper mit ganz bestimmten Bedürfnissen hatte. Er spürte, wie seine Haut austrocknete, und er hatte das seltsame Gefühl, daß sich sein Blut verdickte und immer langsamer durch die Adern floß.
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