»Er ist tot!« sagte Rahman noch einmal. Plötzlich war er wütend auf sich und seine Ohnmacht. »Der verdammte Hurensohn ist mit Sicherheit tot!«
Aber Gacel Sayah war nicht tot. Ohne sich zu bewegen — genauso reglos, wie er vier Tage und fast vier Nächte lang dagelegen hatte — sah er zu, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Gleich würde sich fast übergangslos die Dunkelheit herabsenken. Gacel wußte, daß endlich die Nacht gekommen war, in der es zu handeln galt.
Es war, als würde sein Geist aus einem seltsamen Dämmerschlaf erwachen, in den er sich selbst hineingesteigert hatte, getrieben von der Hoffnung, für einige Zeit zu einem scheinbar leblosen Wesen zu werden, zu einer jener Pflanzen voll milchigen Saftes, zu einem Gesteinsbrocken in der Wüste, zu einem der Millionen Salzkörner der sebkha. Auf diese Weise wollte er den natürlichen Drang überwinden zu trinken, zu schwitzen oder gar zu urinieren.
Es war, als hätten sich die Poren seiner Haut geschlossen, als hätte seine Blase keine Verbindung mehr mit der Außenwelt, als wäre sein Blut zu einer dickflüssigen Masse geworden, die im Zeitlupentempo durch die Adern strömte, getrieben von einem Herzen, dessen Schläge sich auf ein Mindestmaß verringert hatten.
Um dies zu erreichen, mußte Gacel sein Denken, seine Erinnerungen und seine Phantasie sozusagen abschalten, denn er wußte, daß Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden waren. Schon ein Gedanke an Laila, die Vorstellung eines mit klarem Wasser gefüllten Brunnens oder der Wunschtraum, dieser Hölle endlich entkommen zu sein, hätten bewirkt, daß sein Herz unversehens schneller geschlagen hätte, so daß sein verzweifelter Versuch, sich in einen »Steinmenschen« zu verwandeln, unweigerlich gescheitert wäre.
Aber er hatte es vollbracht, und nun erwachte er aus seinem todesähnlichen Schlaf.
Er blickte in die Dämmerung hinaus und aktivierte die Kräfte seines Geistes, damit sie seinen Körper aus der Erstarrung lösten, das Blut schneller fließen ließen und den Muskeln die dringend benötigte Ausdauer und Geschmeidigkeit zurückgaben.
Als es ganz dunkel geworden war und er sicher sein konnte, daß ihn niemand sah, begann er sich zu bewegen: Zuerst beugte er einen Arm, dann den anderen, schließlich die Beine und den Kopf. Nach einer Weile kroch er unter seinem kleinen Sonnendach hervor und stand mühsam auf, wobei er sich auf den Kadaver des Kamels stützen mußte. Von dem toten Tier ging schon der ekelerregende Geruch der Verwesung aus.
Er ergriff eine gerba und mobilisierte ein weiteres Mal seine unglaubliche Willenskraft, um die abscheuliche grüne Flüssigkeit zu schlucken, die breiig aus dem Wassersack quoll. Sie hatte kaum noch etwas mit Wasser zu tun, sondern ähnelte eher mit Galle verrührtem Eiweiß.
Anschließend zückte er seinen Dolch, schob den Reitsattel beiseite und schnitt mit ganzer Kraft das Fell über dem Höcker des Kamels auf. Er griff hinein und förderte ein weißliches Fett zutage, das so aussah wie erkaltetes Schmalz. Schon bald würde es ungenießbar sein, aber Gacel aß davon, denn er wußte, daß er nur durch das Fett wieder schnell zu Kräften kommen konnte.
Sogar nach dem Tod leistete ihm also sein treues Kamel noch einen Dienst. Es spendete ihm das Blut aus seinen Adern und das Wasser aus seinem Magen, damit er den Kampf gegen den Durst gewann. Es gab ihm seinen kostbaren Vorrat an Fett, damit er am Leben bleiben konnte.
Eine Stunde später — es war inzwischen finsterste Nacht geworden — warf Gacel dem toten Mehari einen letzten Blick voller Dankbarkeit zu. Dann ergriff er seine Waffen, hängte sich einen der Wassersäcke um und machte sich ohne Eile auf den Weg nach Westen.
Seine blaue gandura hatte er ausgezogen und trug jetzt nur noch das weiße Untergewand. Wie ein heller Fleck bewegte er sich lautlos über die weiße Ebene.
Später ging der Mond auf, aber über sein leuchtendes Rund legten sich schon erste Schatten. Selbst jetzt wäre es unmöglich gewesen, Gacel aus mehr als zwanzig Metern Entfernung zu erkennen.
Er erreichte die Uferböschung, als sich die ersten Moskitos zu regen begannen. Da umwickelte er seinen Kopf vollständig mit dem litham , dem Gesichtsschleier, so daß nicht einmal ein Spalt für die Augen frei blieb. Er richtete es so ein, daß der Saum seines langen Gewandes auf dem Boden schleifte, denn er mußte verhindern, daß ihm die Insekten die Waden und Fußgelenke zerstachen.
Die Luft war erfüllt vom Sirren vieler Millionen blutrünstiger Moskitos. Zwar waren mitten in der Nacht weniger von ihnen unterwegs als in der Abenddämmerung oder im Morgengrauen, aber ihre schiere Zahl und ihre Unersättlichkeit waren dennoch erschreckend. Gacel mußte sie immer wieder von Hals und Armen abschütteln, denn es waren ihrer so viele und sie waren so groß, daß sie ihn manchmal sogar durch den Stoff des Gewandes stachen.
Er spürte, wie die Salzkruste unter seinen Füßen dünner und damit gefährlicher wurde, doch er konnte in der Dunkelheit nichts anderes tun, als Allah anflehen, seine Schritte sicher zu lenken. Erleichtert atmete er auf, als er endlich auf den ersten flachen Stein trat, der irgendwann vom oberen Rand der Böschung in die Tiefe gestürzt sein mußte. Er machte sich daran, nach einer für den Aufstieg geeigneten Stelle zu suchen. Dabei hätte er leicht auf Skorpione treten können, aber das kümmerte ihn nicht, denn er hatte schon genug andere Sorgen.
Ungefähr dreihundert Meter weiter links entdeckte er eine Stelle, an der er ohne größere Schwierigkeiten das Ufer hinaufklettern konnte. Als er den oberen Rand der Steilwand überwunden hatte und vor sich die endlose Weite des erg erblickte, kam ein leichter Windhauch auf und strich ihm über das Gesicht. Erschöpft ließ er sich in den Sand sinken und dankte dem Allmächtigen dafür, daß er ihn aus jener salzigen Mördergrube erlöst hatte, obwohl er sich schon fast selbst aufgegeben hatte.
Lange ruhte er sich aus und versuchte, nicht auf das Summen der Moskitos zu achten. Dann kroch er mit der Geduld eines Chamäleons, das einem Insekt auflauert, Meter für Meter vom Rand des Salzsees fort, bis er einen halben Kilometer zurückgelegt hatte. Dabei hob er seinen Kopf nicht ein einziges Mal auch nur einen Zoll breit über den Rand der großen Gesteinsbrocken, die überall herumlagen. Sogar als eine winzige Schlange dicht vor seinen Augen vorbeihuschte, blieb er ruhig und fuhr nicht in die Höhe.
Irgendwann drehte er sich auf den Rücken, blickte zu den Sternen auf und versuchte zu schätzen, wieviel Zeit noch bis zum Morgengrauen blieb.
Anschließend untersuchte er seine nähere Umgebung und fand, was er suchte: eine Fläche von ungefähr drei Quadratmetern, die von grobem Schotter bedeckt und von schwarzen Felsbrocken umgeben war.
Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und begann, den groben Sand so leise wie möglich beiseite zu schieben, bis er einen Graben ausgehoben hatte, dreißig Zentimeter tief und so lang wie er selbst. Inzwischen graute schon der Morgen.
Gacel legte sich hinein, und als die ersten Sonnenstrahlen über die Ebene huschten, war er gerade damit fertig, sich von Kopf bis Fuß mit Sand zu bedecken. Nur die Augen, die Nase und den Mund ließ er frei, aber er hatte es so eingerichtet, daß auch sie in den schlimmsten Stunden der Hitze um die Mittagszeit durch den Schatten von zwei großen Steinen geschützt sein würden.
Jemand hätte drei Schritte weiter pinkeln können, ohne zu bemerken, daß sich in nächster Nähe ein Mensch versteckt hielt.
Jeden Morgen, wenn sich der Jeep wieder einmal dem Rand der sebkha näherte, konnte man dem Leutnant ansehen, daß sich in seiner Seele zwei Empfindungen einen erbitterten Kampf lieferten: die Angst, wiederum jene reglose Gestalt an derselben Stelle zu erblicken — und die Angst, sie nicht zu erblicken.
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