Am frühen Nachmittag verlor er das Bewußtsein. Mit weit aufgerissenem Mund lag er da, den Kopf an die Flanke des Kamels gelehnt. Er atmete kaum noch. Seine Lunge sträubte sich gegen die glühendheiße Luft.
Im Delirium hätte er sicherlich geschrien, aber seine Zunge war so geschwollen und die Kehle so trocken, daß er keinen Laut hervorbrachte. Später holten ihn eine Bewegung des Mehari und ein Klagelaut, der aus den Eingeweiden des armen Tieres zu kommen schien, ins Leben zurück. Er schlug die Augen auf, mußte sie jedoch gleich wieder schließen, geblendet vom gleißenden Weiß des Salzsees.
Kein Tag, nicht einmal der, an dem sein erstgeborener Sohn Blut und kleine Fetzen seiner von der Tuberkulose zerfressenen Lunge in den Wüstensand gehustet hatte, war ihm ähnlich lang vorgekommen, geschweige denn ähnlich heiß.
Endlich kam die Nacht. Langsam kühlte sich der Boden ab. Das Atmen bereitete Gacel weniger Schwierigkeiten, und er konnte die Augen öffnen, ohne das Gefühl zu haben, daß sich kleine Dolche in seine Netzhaut bohrten. Auch das Mehari erwachte aus seinem todesähnlichen Schlaf. Es schüttelte sich unruhig und brüllte kraftlos.
Er liebte dieses Tier, und es schmerzte ihn, daß es nun unweigerlich sterben mußte.
Er hatte damals selbst zugesehen, wie es geboren wurde. Vom ersten Augenblick an hatte er gewußt, daß es eines Tages ein rassiges, ausdauerndes und edles Mehari sein würde. Deshalb hatte er es liebevoll gepflegt und ihm beigebracht, seiner Stimme und dem Druck seines Fußes zu gehorchen — eine Sprache, die nur sie beide verstanden. Kein einziges Mal in all den Jahren hatte er das Tier schlagen müssen. Nie hatte es versucht, ihn zu beißen oder anzugreifen, nicht einmal in den Tagen der hitzigsten Brunft. Ja, dieses schöne Tier hatte sich wirklich als ein Segen Allahs erwiesen. Doch nun war seine Stunde gekommen, und es schien dies genau zu wissen.
Er wartete ab, bis der Mond über dem Horizont erschien und mit seinen Strahlen, die sich auf der glitzernden Salzfläche brachen, die Nacht fast zum Tage machte.
Erst dann zückte er seinen scharfen Dolch und schnitt dem Mehari mit einer kräftigen, ruckartigen Bewegung scheinbar ungerührt die weiße Kehle durch.
Ein feierliches Gebet hersagend, fing er das aus der tiefen Wunde spritzende Blut in einer seiner gerba auf. Als der Wassersack voll war, trank er von dem wannen, lebendigen Blut. Bald fühlte er sich erfrischt und gestärkt. Er wartete ein paar Minuten ab, dann gab er sich einen Ruck und betastete aufmerksam den Bauch des Kamels, das sich beim Sterben kaum bewegt hatte, da seine Beine zusammengebunden waren. Nur der Kopf des Tieres war nach einer Weile langsam zu Boden gesunken.
Als er sicher war, die richtige Stelle gefunden zu haben, wischte er den Dolch an der grobgewebten Satteldecke ab, stieß ihn mit ganzer Kraft tief in den Bauch des Kamels und bewegte ihn mehrmals ruckartig hin und her, um das Einstichloch zu vergrößern. Dann zog er die Waffe heraus. Zuerst sickerten ein paar Blutstropfen aus der Wunde, aber gleich darauf schoß ein Strahl grünlichen, stinkenden Wassers hervor, mit dem er die zweite gerba füllte, bis sie überlief. Er hielt sich mit einer Hand die Nase zu, schloß die Augen, legte die Lippen an die Wunde und trank die eklige Flüssigkeit, von der er wußte, daß mit Sicherheit sein Leben von ihr abhing.
Er hörte erst auf, als er auch den letzten Tropfen zu sich genommen hatte, obwohl sein Durst längst gelöscht war und ihm der Magen zu platzen drohte.
Wenig später stellte sich ein würgender Brechreiz ein, aber er wurde damit fertig, indem er sich zwang, an etwas anderes zu denken und den Geschmack des stinkenden Wassers zu vergessen, das sich mehr als fünf Tage lang im Magen des Kamels befunden hatte. Um dies zu bewerkstelligen, mußte er die ganze Willenskraft eines Targi aufbieten.
Irgendwann fiel er in tiefen Schlaf.
»Er ist tot«, murmelte Leutnant Rahman. »Er muß einfach tot sein! Seit vier Tagen hat er sich nicht bewegt. Man könnte meinen, sein Körper hätte sich in Salz verwandelt.«
»Soll ich hingehen und nachschauen?« erbot sich einer der Soldaten, der wohl darauf spekulierte, zum Korporal befördert zu werden. »Die Hitze läßt schon nach…«
Rahman schüttelte langsam den Kopf. Er zog ein Luntenfeuerzeug mit einem langen, grob geflochtenen Docht hervor, eines dieser Dinger, die man häufig bei Seeleuten sieht und die sich auch in der windigen Sandwüste als äußerst praktisch erwiesen hatten. Nachdem er damit seine Tabakspfeife angezündet hatte, meinte er: »Ich traue diesem Targi nicht, und ich will nicht, daß er einen von uns im Dunkeln fertigmacht.«
»Aber wir können hier nicht mehr beliebig lange warten«, wandte der andere ein.
»Es ist nur noch Wasser für drei Tage da.«
»Ich weiß«, sagte der Leutnant. »Wenn bis morgen nichts passiert, werde ich je einen Mann aus allen vier Richtungen losschicken. Wir wollen keine Dummheit machen und jedes unnötige Risiko vermeiden.«
Später, als er allein war, fragte sich Rahman jedoch, ob das größte Risiko nicht darin bestand, tatenlos abzuwarten und sich von dem Targi die Spielregeln diktieren zu lassen. Er kam nicht dahinter, was der Targi vorhatte, aber eines schien ihm sicher: Der Mann würde nicht kampflos an Durst und Hitze zugrunde gehen.
Nach allem, was der Leutnant über Gacel Sayah gehört hatte, war dieser einer der letzten wahrhaft freien Tuareg, ein edler amahar , fast ein Fürst unter den Männern seines Volkes.
Er hatte sich ins »Land der Leere« gewagt und war heil davongekommen. Er war imstande, gegen ein ganzes Heer von Soldaten anzutreten, um sich für eine schwere Beleidigung zu rächen. Ein solcher Mann legte sich nicht einfach zum Sterben nieder, wenn er in der Falle saß. Selbstmord hatte in der Welt der Tuareg keinen Platz, genausowenig wie in den Köpfen der meisten Mohammedaner, denn sie wußten, daß niemand auf einen Platz im Paradies hoffen durfte, der das eigene Leben von sich warf. Es mochte durchaus sein, daß dieser Targi wie viele andere Menschen seines Volkes kein besonders gläubiger Muslim war, sondern sich eher den alten Bräuchen und Überlieferungen verpflichtet fühlte, aber selbst dann war es schwer vorstellbar, daß er sich selbst eine Kugel in den Kopf schoß, sich die Pulsadern aufschnitt oder tatenlos an Durst und Hitze zugrunde ging.
Nein, dieser Mann verfolgte einen Plan, soviel war gewiß. Und dieser Plan mußte zugleich teuflisch raffiniert und einfach sein. Alles, was den Targi umgab, und auch das, was er in seinem Leben gelernt hatte, spielte darin mit Sicherheit eine wichtige Rolle. Er würde versuchen, alles, sogar das, was ihm durch seine Geburt in die Wiege gelegt worden war, zu seinem Vorteil einzusetzen, überlegte Rahman.
Doch so sehr sich der Leutnant auch den Kopf zerbrach — er kam nicht hinter des Rätsels Lösung. Er ahnte, daß der Targi mit seinem, Rahmans, Durchhaltevermögen und mit dem seiner Männer spielte. Gewiß wollte er sie alle glauben machen, daß kein menschliches Wesen so lange in einer derartigen Gluthitze überleben konnte. Sein Spiel bestand darin, daß er ihnen ganz allmählich, fast unmerklich, die Überzeugung eintrichterte, eine Leiche zu belauern, mit der Folge, daß sich ihre Wachsamkeit nach und nach verminderte, ohne daß sie sich dessen bewußt wurden. Irgendwann käme dann der Augenblick, wo er ihnen wie ein Geist durch die Finger schlüpfen und sich gleichsam in Luft auflösen würde, als hätte ihn die endlose Wüste verschluckt.
Rahmans Überlegungen waren absolut logisch, das wußte er selbst am besten. Es ist ausgeschlossen, daß ich mich irre, sagte er sich. Doch dann mußte er an die unerträgliche Hitze denken, die er bei seinem Marsch über den Salzsee hatte erdulden müssen. Er versuchte zu schätzen, wieviel Wasser ein Mensch brauchte, um an einem solchen Ort am Leben zu bleiben, ob er nun ein Targi war oder nicht, und mußte sich schließlich eingestehen, daß alle seine Theorien unhaltbar waren: Es gab keinerlei Hoffnung mehr, daß der Mann dort draußen noch lebte.
Читать дальше