Er ging schnurgerade nach Westen, fort von Adoras und dessen wohlbekannter Umgebung, fort auch von El-Akab, das rechter Hand Weiter im Norden liegen mußte. Gacel hatte beschlossen, daß El-Akab sein nächstes Ziel sein sollte. Aber er war ein Targi, also ein Mann der Wüste, für den die Zeit — Stunden, Tage, ja sogar Monate — keinerlei Bedeutung hatte. Er wußte, daß sich El-Akab irgendwo dort hinten befand. Die Stadt gab es schon seit Jahrhunderten, und sie würde auch noch da sein, wenn in der Wüste schon alle Spuren von ihm, Gacel, und sogar von seinen Enkelkindern verweht wären. Er konnte jederzeit kehrtmachen und denselben Weg noch einmal zurücklegen, sobald die entnervten Soldaten die Suche nach ihm aufgegeben hätten. Jetzt sind sie wütend, sagte er sich, aber in einem Monat werden sie vergessen haben, daß es mich gibt.
Als die Mittagsstunde nahte, hielt Gacel bei einer kaum merklichen Bodenvertiefung an, zwang sein Mehari, in die Knie zu gehen, und legte Steine rund um die Kuhle. Dann rammte er sein Schwert und seine Flinte in den Boden, spannte die Decke zu einem Sonnendach und kroch darunter. Schatten war um diese Tageszeit äußerst wichtig. Es dauerte kaum eine Minute, da war Gacel schon eingeschlafen. Niemand wäre in der Lage gewesen, ihn aus mehr als zweihundert Meter Entfernung zu entdecken.
Als er aufwachte, schien ihm die Sonne, die schon dicht über dem Horizont stand, ins Gesicht. Er spähte zwischen den Steinen hindurch und erblickte eine Staubwolke, die ein einzelnes Fahrzeug hinter sich herzog. Es fuhr langsam, als zögerte es, die schützenden Dünen hinter sich zu lassen und sich in die unwirtlichen Weiten des erg hineinzuwagen.
Sergeant Malik trat auf die Bremsen, schaltete die Zündung aus und ließ den Blick in aller Ruhe über die endlose, tischebene Fläche gleiten. Man hätte meinen können, daß hier ein Riese zum Spaß schwärzliche, scharfkantige Felsbrocken verstreut hatte. Stets mußte man darauf gefaßt sein, daß einem diese Steine die Reifen zerschnitten oder ein Loch in die ölwanne schlugen.
»Ich gehe jede Wette ein, daß dieser Scheißkerl da drin ist«, meinte er und zündete sich mit knappen Bewegungen eine Zigarette an. Ohne sich umzusehen streckte er eine Hand aus. Ali, der Schwarze, legte den Hörer des Sprechfunkgerätes hinein. »Korporal!« rief Malik. »Kannst du mich hören?«
Die Antwort schien von weither zu kommen: »Ja, ich höre Sie, Sergeant! Haben Sie schon etwas gefunden?«
»Nichts. Und du?«
»Keine Spur.«
»Habt ihr schon Kontakt mit Amalrik aufgenommen?«
»Ja, vor einer Weile. Er weiß auch nicht mehr als wir. Ich hab ihn losgeschickt, Mubarrak zu holen. Mit ein bißchen Glück erreicht er Mubarraks Zeltlager noch vor Einbruch der Nacht. Um sieben gibt er per Funk Meldung.«
»Verstanden«, sagte Malik. »Ruf mich an, sobald du mit ihm gesprochen hast. Ende.«
Malik legte auf, stieg auf seinen Sitz und suchte erneut mit dem Fernglas die steinige Ebene ab. Nach einer Weile sprang er übelgelaunt herunter und drehte seinen Männern den Rücken zu, um zu pinkeln. Die anderen ergriffen die Gelegenheit, um es ihm gleichzutun.
»Ich an seiner Stelle würde mich auch in diese Hölle flüchten«, brummte Malik laut und vernehmlich. »Er kommt dort schneller vorwärts und braucht nicht einmal nachts haltzumachen, während unsere Autos in alle Bestandteile auseinanderfallen würden.« Er knöpfte seine Hose zu, ergriff die Zigarette, die er auf die Kühlerhaube des Jeeps gelegt hatte, und nahm einen tiefen Zug. »Wenn wir wenigstens wüßten, welche Richtung er eingeschlagen hat!«
»Vielleicht reitet er nach Hause«, meldete sich Ali. »Aber das wäre in entgegengesetzter Richtung, nach Südosten.«
»Nach Hause!« rief Malik höhnisch. »Bist du schon mal einem dieser verfluchten Söhne des Windes begegnet, der ein Zuhause hat? Beim ersten Anzeichen von Gefahr brechen sie ihre Zelte ab und schicken ihre Familie bis zu tausend Kilometer weit weg in eine abgelegene Gegend.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Dieser Targi ist jetzt dort zu Hause, wo er sich gerade mit seinem Kamel befindet, irgendwo zwischen dem Atlantik und dem Roten Meer. Genau das ist der Vorteil, den er uns gegenüber hat: Er braucht nichts und niemanden.«
»Was sollen wir also machen?«
Malik beobachtete, wie die Sonne den Himmel rot färbte. Gleich würde sie ganz verschwunden sein. Er machte eine resignierte Handbewegung. »Wir werden nichts machen«, meinte er dann. »Schlagt das Lager auf und kocht etwas zu essen! Die ganze Nacht wird abwechselnd Wache geschoben! Jedem, der dabei einschläft, schieße ich höchstpersönlich eine Kugel in den Kopf. Habt ihr das verstanden?«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern entnahm dem Handschuhfach eine Landkarte, breitete sie auf der Motorhaube aus und studierte sie sorgfältig. Er wußte, daß diese Karte nicht zuverlässig war, denn die Dünenfelder veränderten sich ständig, die Wege wurden unter dem Sand begraben, und mancher Brunnen versiegte. Malik wußte auch aus eigener Erfahrung, daß die Leute, die eine Landkarte wie diese gezeichnet hatten, kein einziges Mal in den erg hineingefahren waren, um das Gelände genau zu vermessen. Sie hatten sich mit der annähernden Form und Größe zufriedengegeben. Auf hundert Kilometer mehr oder weniger war es ihnen dabei nicht angekommen.
Doch in der Stunde der Wahrheit konnten hundert Kilometer über Leben und Tod entscheiden, beispielsweise wenn ein Jeep einen Achsenbruch hatte und man zu Fuß weitergehen mußte. Einen Augenblick lang war Malik versucht, das ganze Unternehmen abzublasen und den Befehl zur Rückkehr in die Garnison zu erteilen.
Schließlich und endlich hatte Hauptmann Kaleb-el-Fasi ein solches Ende tausendfach verdient! Hätte Malik den Targi nicht gekannt, dann wäre er jetzt tatsächlich umgekehrt und hätte den Fall nach einer entsprechenden Meldung an seine Vorgesetzten auf sich beruhen lassen. Er fühlte sich jedoch persönlich verhöhnt und beleidigt. Einer von diesen lumpigen »Söhnen des Windes« hatte ihn an der Nase herumgeführt und ihn hinter seinem dreckigen litham ausgelacht, während er ihm, Malik, diese absurde Geschichte über die Große Karawane und ihre Schätze erzählte.
Und ich hab ihm sogar geholfen, seine Sachen auf dem Kamel festzuzurren! Ich hab ihm Wasser gegeben und zugesehen, wie er sich angeblich auf eine lange Reise vorbereitete. Aber er hat sich hinter der erstbesten Düne versteckt und ist am selben Tag zurückgekommen, sagte sich Malik. Wieder ließ er den Blick über die weite Ebene schweifen, die sich schon in ein graues Einerlei ohne erkennbare Einzelheiten verwandelte. »Wenn ich dich erwische, ziehe ich dir die Haut in Streifen vom Leib, das schwöre ich!« murmelte er.
Gacel verrichtete sein Abendgebet, hängte sich einen kleinen, mit ein paar Handvoll Datteln gefüllten Ledersack über die Schulter und setzte seinen Weg nach Westen fort. Während er sich in der Dämmerung verlor, die sich schon der Wüste bemächtigt hatte, griff er dann und wann in den Beutel und verzehrte ohne Hast eine der Datteln. Er wußte, daß er nun die ganze Nacht gleichmäßig weitermarschieren mußte, um einen unüberbrückbaren Abstand zwischen sich und seine Verfolger zu bringen.
Das Kamel hatte sich tags zuvor sattgetrunken, und es lagen keine ausgedehnten Ritte oder sonstigen Strapazen hinter ihm. Es war wohlgenährt und stark, sein Fell glänzte, und sein Buckel war prall. Das bedeutete, daß es bei gleicher Gangart über Kraftreserven für mehr als eine Woche verfügte. Solch ein Tier konnte ohne weiteres einhundert Kilo Körpergewicht verlieren, bevor ihm eine Schwächung anzumerken war.
Was Gacel selbst anbetraf, so war diese Flucht für ihn nichts weiter als ein Spaziergang, denn er war an lange Streifzüge durch die Wüste gewöhnt. Zahllose Male war er der Spur eines flüchtigen Wildes gefolgt oder hatte nach einer stattlichen Herde gesucht, die sich verirrt hatte. Es gefiel Gacel, in der Wüste ganz auf sich gestellt zu sein. Dies war das Leben, das er von ganzem Herzen liebte.
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