Abgesehen von dem Hemd, das er getragen, und dem Scheck, den er eingelöst, und der Flasche Port, die er in der Heiligen Nacht im Bett ausgetrunken hatte, lagen alle Geschenke seiner Familie noch im Schlafzimmer auf dem Boden. Füllmaterial aus Denise' Versandtasche war bis in die Küche gelangt und hatte sich mit verspritztem Abwaschwasser zu einem Matsch verbunden, den er nun überallhin trug. Ganze Herden schafweißer Styroporscheiben lagen an geschützten Orten versammelt.
Im Mittelwesten ging es auf halb elf zu.
Hallo, Dad. Herzlichen Glückwunsch zum Fünfundsiebzigsten. Alles bestens hier. Und in St. Jude?
Chip spürte, dass er diesen Anruf nicht ohne irgendeinen Muntermacher, nicht ohne eine Belohnung über die Bühne bringen konnte. Er brauchte ein Aufputschmittel. Doch er hatte bereits eine lungengroße Schmerzzone in der Brust, weil das Fernsehen seinem kritischen und politischen Urteil solche Qualen bereitete, dass er sich nicht einmal mehr Zeichentrickfilme anschauen konnte, ohne dabei zu rauchen, und ansonsten fand sich nicht ein einziges Rauschmittel in seiner Wohnung, kein Sherry zum Kochen, ja nicht einmal Hustensaft, und nach seinen Bemühungen, sich mit der Chaiselongue zu verlustieren, hatten sich seine Endorphine wie kriegsmüde Truppen in die vier Ecken seines Gehirns zurückgezogen, derart erschöpft von den Anforderungen, die er in den letzten fünf Wochen an sie gestellt hatte, dass nichts, mit Ausnahme der leibhaftigen Melissa vielleicht, sie bewegen konnte, erneut aufzumarschieren. Er brauchte einen Zusatzverstärker für seine Moral, einen kleinen Muntermacher, aber etwas Besseres als die vier Wochen alte Times hatte er nicht, und ihm schien, er habe für einen einzigen Tag bereits genug große M umkringelt, mehr waren nicht drin.
Er ging zum Esstisch und überzeugte sich, dass auch wirklich keine der Weinflaschen, die dort standen, Reste enthielt. Er hatte die letzten 220 Dollar auf seiner Visa-Karte in acht Flaschen eines ziemlich guten Fronsac investiert und am Samstagabend ein letztes Abendessen gegeben, um seine Anhänger aus der Fakultät um sich zu scharen. Ein paar Jahre zuvor hatte der Fachbereich Drama einer allseits beliebten jungen Assistenzprofessorin, Cali Lopez, gekündigt, weil sie mit einem Titel herumgelaufen war, der ihr nicht zustand, woraufhin empörte Studenten und Nachwuchs-Dozenten Boykotts und Nachtwachen bei Kerzenschein organisiert hatten, bis sich das D — College gezwungen sah, Lopez nicht nur wieder einzustellen, sondern ihr sogar eine volle Professorenstelle zu geben. Sicher, Chip war weder Lesbierin noch eine Filipina wie Lopez, aber immerhin hatte er Feministische Theorie unterrichtet und vereinigte hundert Prozent der Stimmen aus dem Schwulenblock auf sich, und seine Literaturlisten spickte er routinemäßig mit Werken nichtwestlicher Autoren, und im Zimmer 23 der Comfort Valley Lodge hatte er eigentlich auch nichts anderes getan, als gewisse Theorien (den Mythos der Urheberschaft, die Verbraucherschutzresistenz transgressiver sexueller [Trans-] Akt[ion]e[n]), die zu lehren das College ihn beauftragt hatte, in die Praxis umzusetzen. Das Dumme war nur, dass diese Theorien, wenn er sie nicht vor leicht zu beeindruckenden jungen Leuten ausbreitete, ein bisschen lahm klangen. Von den acht Kollegen, die seine Einladung für den Samstagabend angenommen hatten, waren jedenfalls nur vier gekommen. Und trotz seiner Anstrengungen, das Gespräch auf seine missliche Lage zu lenken, bestand die einzige kollektive Tat, die seine Freunde seinetwegen auf die Beine stellten, darin, ihm eine A- capella-Version von «Non, je ne regrette rien» darzubringen, während sie die achte Flasche Wein verlöteten.
In den seither verstrichenen Tagen hatte er nicht die Kraft gehabt, den Tisch abzuräumen. Er betrachtete den schwarz gewordenen roten Blattsalat, die Haut aus erstarrtem Fett auf einem übrig gebliebenen Lammkotelett, das Chaos aus Korken und Asche. Die Schande und Unordnung in seiner Wohnung entsprachen der Schande und Unordnung in seinem Kopf. Cali Lopez war inzwischen amtierende College-Rektorin, als Nachfolgerin Jim Levitons.
Erzählen Sie mir von Ihrem Verhältnis zu Ihrer Studentin Melissa Paquette.
Meiner ehemaligen Studentin?
Ihrer ehemaligen Studentin.
Wir sind befreundet. Wir waren zusammen essen. Ich habe zu Beginn der Thanksgiving-Ferien ein wenig Zeit mit ihr verbracht. Sie ist eine hervorragende Studentin.
Haben Sie Melissa bei einer Arbeit geholfen, die sie letzte Woche bei Vendia O'Fallon eingereicht hat?
Wir haben nur ganz allgemein über die Arbeit gesprochen. In einigen Bereichen hatte sie Fragen, und ich konnte ihr dabei helfen, sie zu klären.
Ist Ihre Beziehung zu ihr sexueller Natur?
Nein.
Chip, ich denke, wir werden Sie erst einmal, bei fortlaufendem Gehalt, vom Dienst suspendieren, bis es zu einer ordentlichen Anhörung kommt. Ja, so machen wir das. Die Anhörung wird Anfang nächster Woche sein, und bis dahin sollten Sie sich wohl einen Anwalt besorgen und mit Ihrem Gewerkschaftsvertreter sprechen. Außerdem muss ich darauf bestehen, dass Sie nicht versuchen, Kontakt mit Melissa Paquette aufzunehmen.
Was hat sie gesagt? Dass ich ihre Arbeit geschrieben habe?
Melissa hat den Ehrenkodex verletzt, indem sie eine Arbeit abgegeben hat, die nicht von ihr stammt. Jetzt droht ihr die Suspendierung für ein Semester, aber es scheint, als gebe es da gewisse mildernde Umstände. Zum Beispiel das äußerst unangebrachte sexuelle Verhältnis, das Sie mit ihr unterhalten haben.
Hat sie das gesagt?
Mein persönlicher Rat, Chip — kündigen Sie.
Hat sie das gesagt?
Sie haben keine Chance.
Schmelzwasser pladderte noch heftiger auf seine Terrasse. Er zündete sich an der vorderen Flamme des Gasherds eine Zigarette an, nahm zwei schmerzhafte Züge und presste die Glut gegen die Innenfläche seiner Hand. Er stöhnte mit zusammengebissenen Zähnen, öffnete den Gefrierschrank, legte seine Handfläche auf dessen Boden und stand eine Minute so da, den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Dann ging er mit einem Eiswürfel in der Hand zum Telefon und wählte die alte Vorwahl, die alte Nummer.
Während in St. Jude das Telefon klingelte, stellte er einen Fuß auf den Teil der Times in seinem Müll und stampfte ihn weiter nach unten, schaffte ihn sich aus den Augen.
«Oh, Chip», rief Enid, «er ist schon ins Bett gegangen!»
«Dann weck ihn nicht auf», sagte Chip. «Sag ihm nur — »
Doch schon hatte Enid den Hörer hingelegt und rief Al! Al! immer leiser klang ihre Stimme, je weiter sie sich auf dem Weg zum Schlafzimmer vom Telefon entfernte. Es ist Chip! hörte er sie rufen. Hörte den Anschluss im ersten Stock klicken. Hörte, wie Enid Alfred ermahnte: «Aber nicht bloß Hallo sagen und wieder einhängen. Plaudere ein bisschen mit ihm.»
Als sie ihm den Hörer reichte, knisterte es.
«Ja», sagte Alfred.
«Hey, Dad, herzlichen Glückwunsch», sagte Chip.
«Ja», sagte Alfred noch einmal mit der gleichen tonlosen Stimme.
«Tut mir Leid, dass ich so spät anrufe.»
«Ich hab noch nicht geschlafen.»
«Ich dachte schon, ich hätte dich geweckt.»
«Ja.»
«Also — alles Gute zum Fünfundsiebzigsten.»
«Ja.»
Chip hoffte, dass Enid, trotz schmerzender Hüfte, so schnell sie konnte in die Küche zurückhasten würde, um ihn zu erlösen. «Du bist sicher müde, und es ist spät», sagte er. «Wir brauchen nicht zu reden.»
«Danke für den Anruf», sagte Alfred.
Jetzt war Enid wieder in der Leitung. «Ich mache noch schnell den Abwasch fertig», sagte sie. «Wir haben heute Abend gefeiert! Al, erzähl doch Chip, wie wir gefeiert haben! Ich lege jetzt wieder auf.»
Sie hängte ein. Chip sagte: «Ihr habt gefeiert.»
«Ja. Die Roots waren hier, zum Abendessen und zum Bridge.»
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