«Jedenfalls habe ich mir gedacht», sagte sie, «wenn du und Chip Lust hättet, dann könnten wir alle ein letztes Mal Weihnachten in St. Jude feiern. Wie findest du die Idee?»
«Ich komme dahin, wo ihr sein wollt, du und Dad.»
«Nein, ich frage doch dich. Ich möchte wissen, ob es dir Spaß machen würde, ob dir etwas daran liegt, noch ein letztes Mal in dem Haus, in dem du aufgewachsen bist, Weihnachten zu feiern. Wäre das nicht schön für dich?»
«Ich kann dir jetzt schon sagen», antwortete Denise, «dass Caroline nie und nimmer einen Fuß aus Philly heraussetzen wird. Alles andere ist Wunschdenken. Wenn du deine Enkelkinder sehen willst, musst du schon an die Ostküste fahren.»
«Denise, ich frage doch, was du möchtest. Gary hat gesagt, er und Caroline schließen es nicht aus. Ich muss wissen, ob dir etwas an einem Weihnachtsfest in St. Jude liegt. Denn wenn wir anderen uns alle einig sind, dass es wichtig ist, ein letztes Mal als Familie in St. Jude zusammen — »
«Mutter, wenn du glaubst, dass du das schaffst, habe ich nichts dagegen.»
«Ich werde bloß ein bisschen Hilfe in der Küche brauchen.»
«Ich kann dir in der Küche helfen. Aber ich kann nur ein paar Tage kommen.»
«Kannst du dir keine ganze Woche frei nehmen?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Mutter.»
«Verdammt!», rief Alfred erneut aus dem Wohnzimmer, als irgendetwas Gläsernes, vielleicht eine Vase voller Sonnenblumen, mit einem berstenden Geräusch, einem Scherbengeglucker, zu Boden fiel. «Verdammt! Verdammt!»
Enid hatte selbst so brüchige Nerven, dass sie beinahe ihr Weinglas hätte fallen lassen, und doch war sie in gewisser Weise dankbar für dieses zweite Missgeschick, was immer es sein mochte, weil es Denise einen kleinen Eindruck davon vermittelte, was sie jeden Tag, rund um die Uhr, daheim in St. Jude auszustehen hatte.
Am Abend von Alfreds fünfundsiebzigstem Geburtstag war Chip allein in der Tilton Ledge und verkehrte geschlechtlich mit seiner roten Chaiselongue.
Es war Anfang Januar, und die Wälder rund um den Carparts Creek waren matschig vom schmelzenden Schnee. Nur der Shopping-Center-Himmel über Mittel-Connecticut und die digitalen Anzeigen der häuslichen Elektrogeräte warfen Licht auf seine fleischlichen Mühen. Er kniete zu Füßen seiner Chaiselongue und beschnupperte akribisch, Zentimeter für Zentimeter, den Plüsch, und zwar in der Hoffnung, dass, acht Wochen nachdem Melissa Paquette hier gelegen hatte, noch eine Spur vaginalen Aromas daran haftete. Für gewöhnlich wurden deutliche, identifizierbare Gerüche — Staub, Schweiß, Urin, der penetrante Gestank von Zigarettenrauch, der flüchtige Duft einer Möse — abstrakt und ununterscheidbar, wenn man sie zu lange in der Nase behielt, und so legte er immer wieder Pausen ein, um seine Nasenlöcher durchzulüften. Mit den Lippen arbeitete er sich bis zu den Knopfnabeln vor und legte sie auf die Fusseln, Sandkörner, Krümel und Haare, die sich darin angesammelt hatten. Keine der drei Stellen, an denen er meinte, Melissa zu riechen, duftete ganz eindeutig nach ihr, doch nach ausgiebigem Vergleich fühlte er sich in der Lage, sich für die am wenigsten zweifelhafte Stelle in der Nähe eines Knopfes knapp unterhalb der Rückenlehne zu entscheiden, und widmete ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Nase. Er befingerte mit beiden Händen andere Knöpfe, während der kühle Plüsch, in einer dürftigen Annäherung an Melissas Haut, seine Genitalien wund rieb, bis er schließlich von der Wirklichkeit des Geruchs — davon, dass er wirklich noch ein Andenken an Melissa barg — hinreichend überzeugt war, um den Akt vollziehen zu können. Anschließend rollte er sich von seinem willfährigen antiken Möbel herunter und plumpste zu Boden, mit offener Hose und dem Kopf auf das Polster gebettet, dem Augenblick, wo er es endgültig nicht geschafft haben würde, seinen Vater an dessen Geburtstag anzurufen, wieder eine Stunde näher.
Er rauchte zwei Zigaretten, zündete die eine gleich an der anderen an. Er schaltete den Fernseher ein, wählte einen Kabelsender, in dem ein Marathon alter Warner-Bros.- Zeichentrickfilme lief. Am Rand der bläulich schimmernden Lichtpfütze sah er die Post liegen, die er seit fast einer Woche ungeöffnet auf den Boden warf. Drei Briefe des amtierenden Rektors vom D — College waren darunter, außerdem irgendein ominöses Schreiben von der Lehrer-Pensionskasse sowie ein Brief von der Wohnungsvermittlung des Colleges mit dem Wort RÄUMUNGSBESCHEID gleich vorn auf dem Kuvert.
Früher am Tag hatte Chip ein paar Stunden damit totgeschlagen, auf den ersten Seiten einer vier Wochen alten New York Times mit blauem Kugelschreiber jedes großgeschriebene M zu umkringeln, und war zu dem Schluss gelangt, dass er sich wie ein Depressiver benahm. Jetzt, als sein Telefon zu klingeln anfing, fiel ihm ein, dass ein Depressiver wohl weiter auf den Fernseher starren und das Klingeln ignorieren würde — ja dass er sich vermutlich noch eine Zigarette anzünden und ohne die Spur einer Gefühlsregung einen weiteren Zeichentrickfilm anschauen würde, während sein Anrufbeantworter die Nachricht von wem auch immer entgegennahm.
Dass er hingegen den Impuls hatte, aufzuspringen und ans Telefon zu gehen — dass er der mühevollen Verschwendung eines ganzen Tages so einfach wieder abschwören konnte — , ließ Zweifel an der Echtheit seines Leidens aufkommen. Er hatte das Gefühl, dass er gar nicht fähig war, jedenfalls nicht so wie die Depressiven in Büchern und Filmen, alle Willenskraft und allen Realitätsbezug zu verlieren. Während er den Fernseher stummschaltete und in die Küche eilte, war ihm, als scheitere er selbst an der erbärmlichen Aufgabe, ordentlich vor die Hunde zu gehen.
Er machte seinen Hosenschlitz zu, schaltete das Licht an und nahm ab. «Hallo?»
«Was ist los, Chip?», fragte Denise ohne Vorgeplänkel. «Ich habe gerade mit Dad gesprochen, und er sagt, er hat noch nichts von dir gehört.»
«Denise. Denise. Was schreist du so?»
«Ich schreie, weil ich mich aufrege, und ich rege mich auf, weil heute Dads fünfundsiebzigster Geburtstag ist und du ihn nicht angerufen und ihm auch keine Karte geschrieben hast. Ich rege mich auf, weil ich zwölf Stunden gearbeitet und gerade eben Dad angerufen habe und er sich deinetwegen Sorgen macht. Was ist los?»
Chip war selbst überrascht, dass er lachen musste. «Ich habe meinen Job verloren, das ist los.»
«Du hast die Professur nicht gekriegt?»
«Nein, ich bin gefeuert worden. Sie haben mich nicht mal mehr die letzten zwei Semesterwochen unterrichten lassen. Jemand anders musste die Prüfungen abnehmen. Und ich kann die Entscheidung nur anfechten, indem ich einen Zeugen aufrufe. Aber wenn ich mit meinem Zeugen zu reden versuche, gilt das bloß als weiterer Beweis für mein Vergehen.»
«Wer ist dieser Zeuge? Zeuge wovon?»
Chip nahm eine Flasche aus dem Altglasbehälter, vergewisserte sich, dass sie leer war, und stellte sie zurück. «Eine ehemalige Studentin von mir behauptet, ich sei besessen von ihr. Sie sagt, ich hätte ein Verhältnis mit ihr gehabt und in einem Motelzimmer eine Seminararbeit für sie geschrieben. Und wenn ich mir keinen Anwalt nehme, was ich mir nicht leisten kann, weil sie mir das Gehalt gesperrt haben, darf ich mit dieser Studentin nicht sprechen. Kontakt mit ihr aufzunehmen gilt schon als Belästigung.»
«Lügt sie?», fragte Denise.
«Mom und Dad brauchen das übrigens nicht unbedingt zu wissen.»
«Lügt sie, Chip?»
Der Teil der Times, in dem er jedes großgeschriebene M eingekringelt hatte, lag aufgeschlagen auf Chips Küchentisch. Dieses Kunstwerk jetzt, Stunden später, wieder zu entdecken glich fast der Erinnerung an einen Traum, nur dass ein Traum nicht die Kraft besaß, einen wachen Menschen in seine Welt hineinzuziehen, wohingegen der Anblick eines stark markierten Berichts über abermalige, und zwar erhebliche Kürzungen der Medicare- und Medicaid-Versicherungsleistungen in Chip erneut jenes Gefühl von Unbehagen und unerfüllter Lust weckte, jene Sehnsucht nach Bewusstlosigkeit, die ihn auch dazu getrieben hatte, an der Chaiselongue herumzuschnuppern und — zufummeln. Jetzt musste er sich mühevoll ins Gedächtnis zurückrufen, dass er auf der Chaiselongue bereits gewesen war, dass er diesen Weg, Trost und Vergessen zu finden, bereits beschritten hatte.
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