Bedauerlicherweise hatte dieses Konzept Wilderer auf den Plan gerufen. Anfang der achtziger Jahre, Alfreds Pensionierung rückte bereits näher, war die Midpac als ein regionales Transportunternehmen bekannt, das trotz überragenden Managements und üppiger Gewinnmargen auf seinen Langstrecken nur sehr mittelmäßige Einnahmen erzielte. Einen unliebsamen Freier hatte die Midpac bereits abgewimmelt, da zog sie die begehrlichen Blicke von Hillard und Chauncy Wroth, zweieiigen Zwillingsbrüdern aus Oak Ridge, Tennessee, auf sich, die einen Familien-Fleischverpackungsbetrieb zu einem Dollarimperium ausgeweitet hatten. Zu ihrer Firma, der Orfic Group, gehörten eine Hotelkette, eine Bank in Atlanta, eine Ölgesellschaft und die Arkansas Southern Railroad. Die Wroth-Brüder hatten schiefe Gesichter, fettiges Haar und keine erkennbar anderen Gelüste oder Interessen, als Geld zu scheffeln; die «Oak Ridge Raiders» hießen sie in der Finanzpresse. Bei einem frühen Sondierungsgespräch, an dem auch Alfred teilnahm, redete Chauncy Wroth die Geschäftsleitung der Midpac immer wieder mit «Dad» an: Ich weiß schon, DAD, Sie finden, dass das hier kein Fairplay ist… Nun, DAD, warum setzen Sie sich dann nicht gleich jetzt mit Ihren Anwälten zusammen und sprechen die ganze Sache durch… Also, da hatten Hillard und meine Wenigkeit nun geglaubt, dass Sie einen Betrieb führen, DAD, und kein Wohlfahrtsinstitut… Diese Art von Antipaternalismus kam gut an bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern, die nach Monaten zäher Verhandlungen dafür stimmten, den Wroth- Brüdern ein Paket von Lohn- und Arbeitszeit-Zugeständnissen anzubieten, das fast 200 Millionen Dollar wert war; mit diesen voraussichtlichen Einsparungen in der Tasche, plus 27 Prozent des Aktienkapitals, plus unbeschränkte Finanzierung durch hochverzinsliche Anleihen, machten die beiden Wroths ein unwiderstehliches Angebot und kauften die Eisenbahngesellschaft sofort auf. Ein ehemaliger Highway Verwalter aus Tennessee, Fenton Creel, wurde damit beauftragt, die Fusion der Gesellschaft mit der Arkansas Southern über die Bühne zu bringen. Creel schloss den Hauptsitz der Midpac in St. Jude, schickte ein Drittel der Belegschaft in die Wüste oder in den Vorruhestand und siedelte den Rest nach Little Rock um.
Zwei Monate vor seinem fünfundsechzigsten Geburtstag ging Alfred in Pension. Er saß zu Hause in seinem neuen blauen Sessel und schaute gerade «Good Morning, America», da rief ihn Mark Jamborets, der pensionierte Justiziar der Midpac, an und erzählte ihm, in New Chartres (sprich «Charters»), Kansas, habe ein Sheriff auf einen Mitarbeiter von Orfic Midland geschossen und sei verhaftet worden. «Der Sheriff heißt Bryce Haistrom», wusste Jamborets zu berichten. «Jemand hatte ihm am Telefon gesteckt, ein paar Rowdys würden Signalleitungen der Midpac demolieren. Er fuhr hin und beobachtete, wie drei Kerle die Drähte runterrissen, Stellwerke zertrümmerten und alles aufrollten, was aus Kupfer war. Einer von ihnen hatte schon eine bezirkseigene Kugel in der Hüfte, bevor die anderen Haistrom erklären konnten, dass sie im Auftrag der Midpac handelten. Bergung von wieder verwertbarem Kupfer für sechzig Cent das Pfund.»
«Aber das ist doch ein gutes neues System», sagte Alfred. «Es ist nicht mal drei Jahre her, dass wir die ganze New-Chartres- Strecke überholt haben.»
«Die Wroth-Brüder verschrotten alles, was jenseits der Haupttrasse liegt», sagte Jamborets. «Sogar die Glendora-Abkürzung! Meinst du nicht, Atchison, Topeka, würde da ein Angebot machen?»
«Tja», sagte Alfred.
«Das nenne ich abgestandene Baptistenmoral», sagte Jamborets. «Die Wroths können es nicht ertragen, dass wir allem zugestimmt haben, nur der rücksichtslosen Profitgier nicht. Ich sag's dir: Sie hassen, was nicht in ihre Köpfe geht. Und jetzt säen sie Salz auf den Feldern. Den Hauptsitz in St. Jude schließen? Der zweimal so groß ist wie der Hauptsitz der Arkansas Southern? Sie bestrafen St. Jude dafür, dass es die Heimat der Midland Pacific ist. Und Creel bestraft Städte wie New Chartres dafür, dass sie Midpac-Städte sind. Er sät Salz auf den Feldern derer, die in Gelddingen redlich sind.»
«Tja», sagte Alfred erneut. Er konnte die Augen nicht von seinem neuen blauen Sessel abwenden, dessen Potenzial als Schlafplatz geradezu köstlich war. «Geht mich nichts mehr an.»
Dabei hatte er dreißig Jahre gearbeitet, um die Midland Pacific zu einem starken Unternehmen werden zu lassen, und Jamborets rief ihn immer noch an und schickte ihm Zeitungsberichte über die neuesten in Kansas verübten Freveltaten, aber alles, was er da erfuhr, machte ihn sehr schläfrig. Schon bald war kaum eine mittlere oder kleine Nebenstrecke im westlichen Teil des Midpac-Gebiets mehr in Betrieb, doch Fenton Creel schien zufrieden damit, die Signaldrähte herunterzuholen und die Stellwerke auszuweiden. Fünf Jahre nach der Übernahme war das Schienennetz immer noch da, das Nutzungsrecht immer noch nicht vergeben. Nur das kupferne Nervensystem hatten sie, in einem Akt mutwilliger unternehmerischer Selbstzerstörung, herausgelöst.
«Und jetzt mache ich mir Sorgen um unsere Krankenversicherung», vertraute Enid Denise an. «Orfic Midland hat vor, allen ehemaligen Midpac-Angestellten spätestens ab Mai nur noch Anspruch auf bestimmte Versicherungsleistungen zu gewähren. Also muss ich eine Krankenkasse finden, die wenigstens ein paar von Dads und meinen Ärzten auf ihrer Liste hat. Ich habe ja schon eine Flut von Prospekten zu Hause, aber die Unterschiede stehen alle im Kleingedruckten. Ehrlich gesagt, Denise — ich glaube, ich komme damit nicht zurecht.»
Wie um zu verhindern, dass Enid sie um Hilfe bat, sagte Denise schnell: «Wie regelt Hedgpeth denn diese Dinge?»
«Also, der hat noch ein paar alte Privatpatienten wie Dad, aber sonst arbeitet er nur mit Dean Driblett zusammen», antwortete Enid. «Ich hab dir ja von der großen Party in Deans fabelhaftem, riesigem neuem Haus erzählt. Dean und Trish sind wirklich das netteste junge Paar, das ich kenne, aber Himmel, Denise, letztes Jahr, als Dad über den Rasenmäher gefallen ist, habe ich in seiner Firma angerufen, und weißt du, was die dafür haben wollten, unseren kleinen Rasen zu mähen? Fünfundfünfzig Dollar die Woche! Ich habe nichts dagegen, wenn jemand Gewinne macht, ich finde es ganz herrlich, dass Dean so erfolgreich ist, von seiner Parisreise mit Honey hab ich dir ja erzählt, also, auf ihn lass ich nichts kommen. Aber fünfundfünfzig Dollar die Woche!»
Denise probierte Chips Grüne-Bohnen-Salat und griff nach dem Olivenöl. «Was würde es kosten, Privatpatient zu bleiben?»
«Hunderte von Dollars mehr im Monat, Denise. Keiner von unseren Freunden ist Kassenpatient, alle sind privat versichert, aber ich weiß nicht, wie wir uns das leisten sollen. Dad hat so vorsichtig investiert, wir können froh sein, dass wir für den Notfall überhaupt ein Polster haben. Und da ist noch so eine Sache, die mir große, große, große Sorgen macht.» Enid dämpfte die Stimme. «Eins von Dads alten Patenten wirft endlich etwas ab, und ich brauche deinen Rat.»
Sie ging kurz aus der Küche und vergewisserte sich, dass Alfred auch wirklich nichts hören konnte. «Geht's dir gut, Al?», rief sie.
Er balancierte sein zweites Horsd'oeuvre, den kleinen grünen Güterwagen, unter seinem Kinn. Als habe er ein kleines Tier gefangen, das ihm leicht wieder entwischen könnte, schüttelte er, ohne aufzublicken, den Kopf.
Enid kehrte mit ihrer Handtasche zurück in die Küche. «Da hat er schon mal die Chance, ein bisschen Geld zu verdienen, und dann kümmert es ihn gar nicht. Gary hat letzten Monat mit ihm telefoniert, weil er ihn dazu bewegen wollte, ein wenig fordernder aufzutreten, aber Dad ist der Kragen geplatzt.»
Denise wurde starr. «Was sollt ihr denn Garys Meinung nach tun?»
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