«Bloß ein wenig fordernder auftreten. Hier, ich zeig dir den Brief.»
«Mutter, das sind Dads Patente. Ihr müsst es schon ihm überlassen, was er damit macht.»
Enid hoffte, dass der Umschlag, der sich ganz unten in ihrer Handtasche befand, das verschwundene Einschreiben von der Axon Corporation war. In ihrer Handtasche, genau wie in ihrem Haus, tauchte verloren Geglaubtes manchmal wie durch ein Wunder wieder auf. Aber der Brief, den sie jetzt zutage förderte, war das notariell beglaubigte Original, das nie verloren gewesen war.
«Lies mal», sagte sie, «vielleicht bist du ja der gleichen Meinung wie Gary.»
Denise stellte den Cayennepfeffer, mit dem sie Chips Salat bestreut hatte, weg und nahm den Brief. Enid blickte ihr über die Schulter und las ihn erneut, um sicherzugehen, dass alles noch so dastand, wie sie es in Erinnerung hatte.
Sehr geehrter Herr Dr. Lambert,
im Auftrag der Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, Pennsylvania, schreibe ich Ihnen, um Ihnen die Zahlung einer Pauschalsumme von fünftausend Dollar ($ 5.000,00) für die vollständige, ausschließliche und unwiderrufliche Nutzung der Rechte an dem US-Patent #4.934.417 (THERAPEUTISCHE EISENACETAT-GEL- ELEKTORPOLYMERISATION) anzubieten, dessen ursprünglicher und alleiniger Inhaber Sie sind.
Die Geschäftsleitung von Axon bedauert, Ihnen keine höhere Vergütung in Aussicht stellen zu können. Das firmeneigene Produkt befindet sich noch in einer frühen Testphase, und es kann nicht garantiert werden, dass die Investition Früchte tragen wird.
Wenn Sie die im beigefügten Lizenzvertrag aufgeführten Bedingungen akzeptieren, bitte ich Sie, alle drei Exemplare unterschrieben und notariell beglaubigt bis zum 30. September an mich zurückzusenden.
Mit freundlichen Grüßen Ihr
Joseph K. Prager
Seniorpartner
Bragg Knuter & Speigh
Als der Brief im August mit der Post gekommen und Enid sofort in den Keller gegangen war, um Alfred zu wecken, hatte er achselzuckend gesagt: «Fünftausend Dollar ändern nichts an unserem Lebensstil.» Enid hatte vorgeschlagen, der Axon Corporation zu schreiben und eine höhere Vergütung zu verlangen, doch Alfred schüttelte den Kopf. «Dann werden wir die fünftausend Dollar bald für einen Anwalt ausgegeben haben», sagte er, «und was hätten wir dann erreicht?» Fragen koste doch nichts, sagte Enid. «Ich werde aber nicht fragen», sagte Alfred. Und wenn er bloß zurückschreibe, sagte Enid, und zehntausend verlange… Dann war sie verstummt, so scharf hatte Alfred sie angesehen. Ebenso gut hätte sie ihm vorschlagen können, mit ihr zu schlafen.
Denise hatte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank genommen, als wolle sie unterstreichen, wie gleichgültig ihr war, was Enid wichtig nahm. Manchmal glaubte Enid, dass Denise alles, aber auch alles, was ihr am Herzen lag, gering schätzte. Das sah sie schon daran, wie Denise jetzt, in ihren herausfordernd knapp sitzenden Bluejeans, mit der Hüfte eine Schublade zustieß. Und an der Selbstsicherheit, mit der sie einen Korkenzieher in den Korken schraubte. «Möchtest du etwas Wein?»
Enid schauderte. «So früh am Tag.»
Denise trank den Wein wie Wasser. «Wie ich Gary kenne», sagte sie, «hat er wahrscheinlich gesagt, ihr sollt versuchen, sie über den Tisch zu ziehen.»
«Also nein, hör zu — » Enid streckte beide Hände nach der Flasche aus. «Nur einen Tropfen, gieß mir nur einen kleinen Schluck ein, ehrlich, ich trinke nie so früh am Tag, nie — also, Gary fragt sich, warum die Firma überhaupt an dem Patent interessiert ist, wenn sie mit der Entwicklung erst ganz am Anfang steht. Üblich ist wohl, solche Patente einfach zu missachten. Das ist zu viel! Denise, so viel Wein möchte ich nicht! Weißt du, das Patent erlischt nämlich in sechs Jahren, und deshalb meint Gary, dass die Firma mit Sicherheit bald einen Batzen Geld damit verdient.»
«Hat Dad den Vertrag unterschrieben?»
«O ja. Er ist extra zu den Schumperts gegangen, damit Dave ihn beglaubigt.»
«Dann musst du seine Entscheidung respektieren.»
«Denise, er ist stur und unvernünftig. Ich kann doch nicht — »
«Willst du etwa seine Geschäftsfähigkeit anzweifeln?»
«Nein. Überhaupt nicht. Es ist ja ganz typisch, wie er sich benimmt. Ich kann bloß nicht — »
«Wenn er den Vertrag schon unterzeichnet hat», sagte Denise, «was sollt ihr denn Garys Meinung nach noch tun?»
«Nichts, vermutlich.»
«Und worum geht's dann überhaupt?»
«Ach, weiß ich auch nicht. Du hast Recht», sagte Enid. «Wir können gar nichts mehr tun», und doch, in Wahrheit stimmte das nicht. Wenn Denise ein bisschen weniger entschieden Alfreds Partei ergriffen hätte, vielleicht hätte Enid ihr dann gestanden, dass sie den Umschlag mit dem beglaubigten Vertrag, statt ihn auf dem Weg zur Bank bei der Post abzugeben, im Handschuhfach des Autos deponiert hatte, wo er tagelang lag und ihr ein schlechtes Gewissen einflößte, und dass sie ihn später, während Alfred sein Nickerchen machte, an einem sichereren Ort versteckt hatte, in der Waschküche nämlich, ganz hinten in dem Schrank, wo sie auch die Gläser mit Marmelade und Brotaufstrich lagerte (Kumquat-Rosinen, Brandy-Kürbis, koreanische Brechbeere), die, weil keiner sie essen mochte, mit der Zeit eine graue Färbung angenommen hatten, außerdem Vasen, Körbe und Gesteckschwämme aus dem Blumenladen, die zum Wegwerfen zu gut, zum Benutzen hingegen nicht gut genug waren; und dass sie und Alfred, infolge dieser Unredlichkeit, Axon theoretisch noch immer eine hohe Lizenzgebühr abluchsen konnten, weswegen es entscheidend war, dass sie den zweiten, eingeschriebenen Brief von Axon wieder fand und versteckte, bevor Alfred herausbekam, dass sie ihn getäuscht und ihm zuwidergehandelt hatte. «Ach, da fällt mir noch etwas ein», sagte sie und leerte ihr Glas. «Es gibt da eine Sache, bei der ich wirklich deine Hilfe brauche.»
Denise zögerte, antwortete dann aber mit einem höflichen, freundlichen: «Ja?» Dieses Zögern bestätigte Enids lang gehegten Verdacht, dass sie und Alfred bei der Erziehung von Denise irgendwann einen falschen Weg eingeschlagen hatten. Dass es ihnen nicht gelungen war, ihrem jüngsten Spross den rechten Geist von Großzügigkeit und freudiger Hilfsbereitschaft einzuimpfen.
«Wie du weißt», sagte Enid, «haben wir jetzt achtmal hintereinander Weihnachten in Philadelphia gefeiert, und Garys Jungs sind inzwischen alt genug, dass ihnen eine Erinnerung an ein Weihnachten im Haus ihrer Großeltern etwas bedeuten könnte, und deshalb dachte ich — »
«Verdammt!» Der Aufschrei kam aus dem Wohnzimmer.
Enid stellte ihr Glas ab und eilte aus der Küche. Alfred saß in einer sträflingsartigen Haltung auf der Kante der Chaiselongue, die Knie angezogen, den Rücken ein wenig gebeugt, und betrachtete die Absturzstelle seines dritten Horsd'oeuvre. Die Brotgondel war ihm auf dem Weg zum Mund aus den Fingern geglitten und aufs Knie gefallen, von dort, Wrackteile verstreuend, auf den Boden gerutscht und schließlich unter der Chaiselongue gelandet. Ein feuchter Pelz roten Paprikapulvers klebte an der Flanke der Chaiselongue. Schatten aus Öltunke bildeten sich um jedes Klümpchen klein gehackter Oliven auf dem Polster. Die leere Gondel lag auf der Seite, und zu sehen war ihr gelb getränktes, braunfleckig weißes Inneres.
Denise zwängte sich mit einem feuchten Schwamm an Enid vorbei und kniete sich neben Alfred. «O Dad», sagte sie, «die sind schwer zu halten, daran hätte ich denken müssen.»
«Gib mir einfach einen Lappen, ich mach das wieder sauber.»
«Nein, lass nur», sagte Denise. Eine hohle Hand darunter haltend, wischte sie die Olivenbröckchen von Alfreds Knien und Oberschenkeln. Seine Hände zitterten nahe an ihrem Kopf in der Luft, als wolle er sie wegstoßen, doch sie arbeitete schnell, hatte bald alle Olivenbröckchen vom Boden aufgenommen und trug die schmuddeligen Essensreste in die Küche zurück, wo es Enid in der Zwischenzeit nach einem weiteren kleinen Spritzer Wein gelüstet hatte, aus dem, da sie nicht erwischt werden wollte, in der Eile ein ziemlich kräftiger kleiner Spritzer geworden war, den sie nun hastig hinunterstürzte.
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