«Sie stehn mir 'n bisschen im Licht», sagte er.
«Wollen Sie heute Abend mit mir essen gehen?»
Er seufzte schwer. Seine Schultern fielen nach vorn. «Ich muss übers Wochenende eigentlich nach Indiana.»
«Na dann.»
«Aber ich überleg's mir nochmal.»
«Gut. Überlegen Sie es sich.»
Sie klang ganz lässig, aber auf dem Weg zur Damentoilette wurden ihr die Knie weich. Sie schloss sich in eine Kabine ein, setzte sich auf den Klodeckel und machte sich Sorgen, während draußen die Fahrstuhlglocke leise klingelte und der Imbisswagen kam und wieder verschwand. Doch sie wusste gar nicht, was ihr solche Sorgen machte. Ihre Augen hefteten sich auf irgendetwas, den Chromriegel an der Kabinentür oder ein viereckiges Stück Klopapier am Boden, und ehe sie sich's versah, hatte sie es fünf Minuten lang angestarrt und an nichts gedacht. An nichts. Nichts.
Fünf Minuten vor Ende des Arbeitstages, sie war gerade beim Aufräumen, tauchte Don Armours breites Gesicht neben ihrer
Schulter auf, die Lider hinter seinen Brillengläsern schwer vor Müdigkeit.
«Denise», sagte er. «Ich möchte Sie zum Essen einladen.»
Sie nickte rasch. «Na dann.»
In einem rauen Stadtteil nördlich der Innenstadt, mit vorwiegend armer und schwarzer Bevölkerung, gab es ein altmodisches Lokal, das Henry Dusinberre und seine studentischen Mimen gern besuchten. Denise wollte nichts anderes als Eistee und Pommes frites, Don Armour dagegen bestellte sich ein Hamburgermenü und einen Milchshake. Seine Haltung, fand sie, war die eines Frosches. Sein Kopf versank zwischen den Schultern, wenn er sich übers Essen beugte. Er kaute mit Bedacht, gleichsam ironisch. Er blickte milde lächelnd, gleichsam ironisch, durch den Raum. Als er seine Brille den Nasenrücken hochschob, sah sie, dass seine Fingernägel bis aufs rosa Fleisch abgebissen waren.
«Ich würde um diese Gegend 'nen Bogen machen», sagte er.
«Die paar Blocks hier sind einigermaßen sicher.»
«Na, für Sie vielleicht, was», sagte er. «Ein Ort spürt genau, ob man weiß, was Ärger is. Wenn man's nich weiß, wird man in Ruhe gelassen. Aber ich weiß es, leider. Wenn ich 'ne Straße wie die hier langgegangen wär, als ich so alt war wie Sie, wär garantiert was Hässliches passiert.»
«Das verstehe ich nicht.»
«So war das eben. Ich brauchte bloß irgendwo aufzutauchen, schon waren da drei Freunde, die mich nich riechen konnten. So wenig wie ich sie. Das is 'ne Welt, die Sie als erfolgreicher und glücklicher Mensch gar nich sehen können. Jemand wie Sie spaziert da mittendurch. Die Welt wartet bloß drauf, dass einer wie ich, den man zu Hackfleisch machen kann, da vorbeikommt. Die erkennt mich aus 'nem Kilometer Entfernung.»
Don Armour hatte eine große amerikanische Limousine, die so ähnlich war wie die von Denise' Mutter, nur älter. Er lenkte sie in aller Ruhe auf eine Hauptstraße, fuhr gemächlich Richtung Westen und machte sich einen Spaß daraus, über dem Steuer zu hängen («Ich bin ein Lahmarsch; mein Auto is schlecht»), während andere Fahrer links und rechts an ihm vorbeidonnerten.
Denise beschrieb ihm den Weg zu Henry Dusinberres Haus. Tief im Westen über dem sperrholzäugigen Bahnhof schien noch die Sonne, als sie die Stufen zu Dusinberres Veranda hinaufstiegen. So wie Don Armour an den Bäumen hochschaute, hätte man meinen können, dass selbst sie ihm besser, wertvoller vorkamen als anderswo. Denise hatte die Hand schon am Griff der Fliegendrahttür, als sie merkte, dass die Haustür dahinter offen stand.
«Lambert? Bist du's?» Henry Dusinberre trat aus dem Zwielicht seines Salons. Seine Haut war wächserner denn je, seine Augen quollen noch stärker hervor, und seine Zähne schienen länger geworden. «Der Arzt meiner Mutter hat mich nach Hause geschickt», sagte er. «Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich glaube, er hatte genug vom Tod.»
Don Armour zog sich gesenkten Kopfes Richtung Wagen zurück.
«Wer ist dieser unglaubliche Koloss?», fragte Dusinberre.
«Ein Arbeitskollege», sagte Denise.
«Also, der kann nicht mit reinkommen. Tut mir Leid. Ich will keine Kolosse im Haus haben. Ihr müsst euch was anderes suchen.»
«Hast du genug zu essen da? Ist alles in Ordnung?»
«Ja, geh du nur. Ich fühle mich schon besser, jetzt, wo ich zurück bin. Der Arzt und ich, wir waren beide ganz betreten wegen meines Zustands. Offenbar, Kind, habe ich so gut wie gar keine weißen Blutkörperchen mehr. Der Mann hat vor Angst regelrecht gezittert. War überzeugt, dass ich gleich an Ort und
Stelle, dort in seiner Praxis, sterben würde. Lambert, er tat mir ja so Leid!» Ein dunkler Heiterkeitsschlund öffnete sich im Gesicht des Kranken. «Ich habe versucht, ihm klar zu machen, dass mein Bedarf an weißen Blutkörperchen quasi zu vernachlässigen ist. Aber er schien mich unbedingt als medizinische Kuriosität betrachten zu wollen. Dann habe ich mit Mutter zu Mittag gegessen und bin mit dem Taxi zum Flughafen gefahren.»
«Kommst du auch wirklich zurecht?»
«Ja. Nun geh schon, mit meinem Segen. Sei närrisch. Aber nicht in meinem Haus. Los.»
Es war unklug, am helllichten Tag auf der Straße vor ihrem Elternhaus, wo aufmerksame Roots und neugierige Dribletts kamen und gingen, mit Don Armour gesehen zu werden, also ließ sie ihn zur Grundschule fahren und führte ihn auf den Rasenplatz dahinter. Sie saßen mitten in der Elektromenagerie des Insektengesumms, der geschlechtlichen Intensität gewisser duftender Sträucher, der abklingenden Hitze eines schönen Julitages. Don Armour schlang seine Arme um ihren Bauch, legte sein Kinn auf ihre Schulter. Sie lauschten den matten Puffen kleinkalibriger Feuerwerkskörper.
Als sie später, nach Einbruch der Dunkelheit, in ihrem bis zur Frostigkeit klimatisierten Haus standen, versuchte sie ihn rasch zur Treppe zu lotsen, doch er verweilte in der Küche, schaute sich in aller Ruhe im Esszimmer um. Der falsche Eindruck, den das Haus ganz offenbar erweckte, gab ihr einen Stich. Obgleich ihre Eltern nicht wohlhabend waren, sehnte sich ihre Mutter so sehr nach einer bestimmten Art von Eleganz und hatte deshalb so viel Aufwand getrieben, dass das Haus in Don Armours Augen wie das Haus reicher Leute aussah. Er schien kaum auf die Teppiche treten zu wollen. Er blieb stehen und betrachtete aufmerksam, wie vielleicht noch keiner vor ihm, die Waterford-Kelchgläser und — Konfektschälchen, die Enid hinter den Glastüren des Wohnzimmerschranks aufbewahrte. Auf jedem
Gegenstand, den Spieldosen, den Pariser Straßenszenen, den farblich aufeinander abgestimmten und wunderschön bezogenen Polstermöbeln, ruhte sein Blick, wie er auf Denise' Körper geruht hatte — war das erst heute gewesen? Heute in der Mittagspause?
Sie schob ihre große Hand in seine noch größere, wob ihre Finger in die seinen und zog ihn zur Treppe.
In ihrem Zimmer, auf den Knien, legte er seine Daumen an ihre Hüftknochen und drückte seinen Mund erst auf ihre Schenkel, dann auf ihr Was-auch-immer; sie fand sich in eine Grimm'sche und C.-S.-Lewis'sche Kindheitswelt zurückversetzt, in der eine Berührung Zauberkraft besaß. Seine Hände verwandelten ihre Hüften in die Hüften einer Frau, sein Mund verwandelte ihre Schenkel in die Schenkel einer Frau, ihr Was- auch-immer in eine Möse. Das waren die Vorteile, wenn jemand Älteres einen begehrte: sich nicht mehr so sehr wie eine geschlechtslose Marionette zu fühlen, eine sachkundige Führung durch das Gelände der eigenen Morphologie zu bekommen, über deren Nützlichkeit aufgeklärt zu werden, noch dazu von einem, für den es das Nonplusultra war.
Jungs in ihrem Alter wollten irgendetwas, ohne genau zu wissen, was. Jungs in ihrem Alter wollten Ungefähres. Denise' Aufgabe — die Rolle, die sie bei mehr als einem lausigen Rendezvous gespielt hatte — war, sie genauer herausfinden zu lassen, was sie wollten, ihre Bluse aufzuknöpfen und ihnen Anstöße zu geben, ihre ziemlich rudimentären Vorstellungen (gewissermaßen) Fleisch werden zu lassen.
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