«Ja.»
Er war nicht gut aussehend. Sein Kopf wirkte zu groß, sein Haar lichtete sich, und sein Gesicht war, außer, wo sein Bart es blau färbte, nitritrot wie ein Wiener Würstchen oder eine Mortadella. Aber sie erkannte etwas leicht Spöttisches, Aufgewecktes, tierhaft Trauriges in seinem Blick; und die Sattelkurven seiner Lippen waren einladend.
Er las, was auf dem Buchrücken stand. «Graf Leo Tolstoi», sagte er. Er schüttelte den Kopf und lachte lautlos.
«Was?»
«Nix», sagte er. «Ich versuch mir bloß vorzustellen, — wie das so is — Sie zu sein.»
«Wie meinen Sie das?»
«Na ja, schön zu sein. Intelligent. Diszipliniert. Reich. Aufs College zu gehen. Na, wie is das?»
Sie hatte den lächerlichen Impuls, ihm zu antworten, indem sie ihn berührte, ihn fühlen zu lassen, wie das war. Im Grunde gab es keine andere Möglichkeit, darauf zu antworten.
Sie zuckte die Achseln und sagte, dass sie es nicht wisse.
«Ihr Freund muss sehr glücklich sein.»
«Ich habe keinen Freund.»
Don Armour schauderte, als wäre das eine schlechte Nachricht. «Das find ich erstaunlich. Überraschend.»
Denise zuckte erneut die Achseln.
«Als ich siebzehn war, hatte ich auch mal 'nen Sommerjob», sagte Don. «Da hab ich für 'n altes Mennonitenpaar gearbeitet, mit 'nem großen Antiquitätengeschäft. Wir haben da so 'n Zeugs benutzt, Magische Mixtur hieß das — Farbverdünner, Holzgeist, Aceton, Wolframöl. Damit konnte man die Möbel reinigen, ohne dass der Lack abging. Ich hab's den ganzen Tag eingeatmet, und abends bin ich förmlich nach Haus geschwebt. Gegen Mitternacht kriegte ich dann die übelsten
Kopfschmerzen.»
«Wo sind Sie aufgewachsen?»
«Carbondale, Illinois. Irgendwie hatte ich verdammt das Gefühl, dass die Mennoniten mir zu wenig zahlten, trotz der Gratistrips und so. Da hab ich angefangen, mir abends ihren Pick-up auszuborgen. Ich hatte 'ne Freundin, die rumkutschiert werden musste. Dann hab ich den Pick-up zu Schrott gefahren, und erst jetzt kriegten die Mennoniten heraus, dass ich ihn benutzt hab, und mein damaliger Stiefvater sagte, wenn ich bei der Marine anheuern würde, könnte er das mit den Mennoniten und der Versicherung schon regeln, ansonsten müsst ich sehen, wie ich mit den Bullen allein zurechtkam. Also bin ich Mitte der sechziger Jahre zur Marine. Sah eben damals so aus, als ob's das Richtige war. Tolles Timing. Da hab ich wirklich den Bogen raus.»
«Sie waren in Vietnam.»
Don Armour nickte. «Wenn's zur Fusion kommt, bin ich wieder da, wo ich nach meiner Entlassung angefangen hab. Plus drei Kinder und 'n paar Fähigkeiten, die keiner braucht.»
«Wie alt sind Ihre Kinder?»
«Zehn, acht und vier.»
«Ist Ihre Frau berufstätig?»
«Sie is Schulkrankenschwester. Lebt bei ihren Eltern in Indiana. Die haben zwei Hektar Land und 'nen Teich. Schön für die Mädchen.»
«Machen Sie auch mal Urlaub?»
«Zwei Wochen nächsten Monat.»
Denise fiel keine Frage mehr ein. Don Armour saß vornübergebeugt neben ihr, die Hände flach aneinander gepresst zwischen den Knien. Lange Zeit saß er völlig ausdruckslos da. Dann sah sie von der Seite, wie sich das charakteristische Grinsen auf sein Gesicht stahl; anscheinend musste er jeden, der ihn ernst nahm oder Mitgefühl zeigte, dafür bezahlen lassen. Schließlich stand Denise auf und sagte, sie werde jetzt hineingehen, und er nickte, als sei das ein Schlag, auf den er schon gewartet habe.
Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour lächelte, weil es ihn verlegen machte, so unverhohlen um ihre Gunst zu werben und sie mit solchen abgedroschenen Phrasen ködern zu wollen. Sie kam nicht auf die Idee, dass sein Auftritt am Binokel-Tisch tags zuvor eigens ihretwegen inszeniert worden war. Sie kam nicht auf die Idee, dass er sie hinter der Toilettentür vermutet, ja es regelrecht darauf angelegt hatte, von ihr belauscht zu werden. Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armours Hauptwesenszug das Selbstmitleid war und dass er, mit ebendiesem Selbstmitleid, schon viele Mädchen vor ihr herumgekriegt hatte. Sie kam nicht auf die Idee, dass er längst — seit dem Moment nämlich, da er ihr zum ersten Mal die Hand geschüttelt hatte — plante, ihr an die Wäsche zu gehen. Sie kam nicht auf die Idee, dass er den Blick nicht nur abwandte, weil ihre Schönheit ihm Qualen bereitete, sondern auch weil in jedem der Ratgeber, für die ganz hinten in einschlägigen Männermagazinen geworben wurde («Wie du sie WILD auf dich machst — immer wieder!»), Regel Nr.1 lautete: Ignoriere sie. Sie kam nicht auf die Idee, dass Don Armour der Klassenunterschied zwischen ihnen beiden, der ihr unangenehm war, vielleicht gerade reizte: dass er sie als Luxusgegenstand begehrte oder dass es für einen im Grunde seines Wesens selbstmitleidigen Mann, der um seinen Job fürchten musste, in vielerlei Hinsicht eine Genugtuung wäre, die Tochter des Chefs vom Chef seines Chefs aufs Kreuz zu legen. Nichts von alledem kam Denise in den Sinn, damals ebenso wenig wie später. Auch noch zehn Jahre danach machte sie sich selbst für alles, was geschehen war, verantwortlich.
Was sie an jenem Nachmittag hingegen deutlich sah, waren die Probleme. Dass Don Armour sie anfassen wollte, es aber offenbar nicht hinbekam, war ein Problem. Dass sie durch einen
Zufall der Geburt alles besaß, während der Mann, der sie begehrte, so viel weniger hatte — dieses Ungleichgewicht — , das war ein großes Problem. Und da sie diejenige war, die alles besaß, war es zweifellos an ihr, das Problem zu lösen. Doch jedes ermunternde Wort, das sie ihm sagen, jede solidarische Geste, die sie sich vorstellen konnte, kam ihr herablassend vor.
Sie spürte das Problem intensiv in ihrem Körper. Dass sie mit so viel mehr Talenten und Chancen gesegnet war als Don Armour, manifestierte sich als physische Störung — als ein Unwohlsein, das sie, indem sie sich an ihren empfindlichsten Stellen kniff, zwar bekämpfen, nicht aber besiegen konnte.
Nach der Mittagspause ging sie in den Lagerraum, wo in den sechs mit schweren Deckeln versehenen Containern, die eleganten Müllschluckern glichen, die Originale aller Signalschaltpläne aufbewahrt wurden. Mit den Jahren waren die großen Pappordner in den Containern bis zum Bersten gefüllt worden, sodass sich tief zwischen ihren Deckeln verschollene Pläne gesammelt hatten, und Denise war die befriedigende Aufgabe übertragen worden, hier Ordnung zu schaffen. Die Zeichner, die in den Lagerraum kamen, gingen unbeirrt ihrer Arbeit nach, während Denise die Ordner neu beschriftete und lang vermisste Pergamente zutage förderte. Der größte Container war so tief, dass sie sich bäuchlings, die Beine auf kaltem Metall, auf den benachbarten Container legen und mit beiden Armen hineingreifen musste, um bis ganz nach hinten zu gelangen. Sie ließ die geretteten Pläne auf den Boden fallen und griff von neuem hinein. Als sie wieder auftauchte, um Luft zu schöpfen, merkte sie, dass Don Armour neben dem Container kniete.
Seine Schultern waren muskulös wie die eines Ruderers und zogen seinen Blazer straff. Sie wusste weder, wie lange er schon da war, noch, wohin er geschaut hatte. Jetzt studierte er ein ziehharmonikagefalteltes Pergament, den Schaltplan für ein Stellwerk beim Meilenstein 101.35 an der McCook-Strecke. Es war 1956 freihändig von Ed Alberding gezeichnet worden.
«Ed war noch 'n Bengel, als er das gezeichnet hat. Schönes Ding.»
Denise kletterte herunter, strich ihren Rock glatt und klopfte sich den Staub ab.
«Ich sollte Ed nich so zusetzen», sagte Don. «Er is begabt, wie ich's nie sein werde.»
Allem Anschein nach beschäftigte ihn Denise weniger, als er sie beschäftigte. Während sie neben ihm stand und auf sein jungenhaft verquirltes bleistiftgraues Haar hinabschaute, faltete er einen weiteren zerknitterten Plan auseinander. Sie trat einen Schritt näher zu ihm und beugte sich weiter vor, sodass ihr Oberkörper einen Schatten auf ihn warf.
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