Don Armour sagte ihr nie, wie er seiner Frau erklärt hatte, warum er am Wochenende nicht nach Indiana kam. Denise scheute sich, ihm auch nur eine einzige seine Frau betreffende Frage zu stellen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ertrug sie die Schelte ihrer Mutter für einen weiteren Fehler, der ihr eigentlich niemals unterlaufen wäre: ein blutbeflecktes Laken nicht sofort in kaltem Wasser eingeweicht zu haben.
Am ersten Freitag im August, unmittelbar bevor Don Armours zweiwöchiger Urlaub anfing, kehrten er und Denise noch einmal ins Büro zurück und schlossen sich im Lagerraum ein. Sie küsste ihn, legte seine Hände auf ihre Brüste und versuchte, seine Finger zu führen, doch seine Hände wollten auf ihren Schultern sein; sie wollten sie auf die Knie drücken. Sein Zeug geriet in ihre Nasenlöcher.
«Hast du dich erkältet?», fragte ihr Vater ein paar Minuten später, als sie die Stadtgrenze hinter sich ließen.
Zu Hause überbrachte Enid ihr die Nachricht, dass Henry Dusinberre («dein guter Freund») am Mittwochabend im St. Luke's gestorben sei.
Denise hätte ein weitaus schlechteres Gewissen gehabt, wenn sie Dusinberre nicht erst am Sonntag in seinem Haus besucht hätte. Sie hatte ihn in den Klauen einer gewaltigen Verärgerung über das Baby seiner Nachbarin angetroffen. «Ich muss ohne weiße Blutkörperchen auskommen», sagte er. «Da könnten sie doch mal ihre verdammten Fenster zumachen. Mein Gott, was hat das Baby für Lungen! Wahrscheinlich sind sie darauf auch noch stolz. Wahrscheinlich ist das wie bei diesen Motorradfahrern, die ihre Auspufftöpfe abmontieren. Irgend so ein albernes, primitives Männlichkeitssymbol.» Dusinberres Schädel und Knochen drückten immer fester gegen seine Haut. Er ließ sich über das Porto einer 90-Gramm-Briefsendung aus. Er erzählte Denise eine verschlungene, unwahre Geschichte über eine Frau mit «Negerblut» in den Adern, mit der er vorübergehend verlobt gewesen sei. («Wenn es mich überrascht hatte, dass sie nur zu sieben Achteln weiß war, dann stell dir erst mal ihre Überraschung vor, als sie erfuhr, dass ich nur zu einem Achtel hetero bin.») Er redete von seinem lebenslangen Kreuzzug für Fünfzig-Watt-Glühbirnen. («Sechziger sind zu hell», sagte er, «und Vierziger zu dunkel.») Etliche Jahre hatte er mit dem Tod gelebt und ihn in Schach gehalten, indem er ihn bagatellisierte. Auch jetzt brachte er noch ein einigermaßen boshaftes Lachen zustande, doch das Bagatellisieren erwies sich am Ende als so hoffnungslos wie alles andere. Denise gab ihm zum Abschied einen Kuss, doch da schien er sie schon nicht mehr zu erkennen. Er lächelte, mit niedergeschlagenen Augen, als wäre er ein besonderes Kind, das für seine Schönheit zu bewundern und für seine tragischen Lebensumstände zu bemitleiden war.
Auch Don Armour sah sie nie wieder.
Am Montag, dem 6. August, erzielten Hillard und Chauncy
Wroth, nach einem Sommer zähen Verhandelns, eine Einigung mit den wichtigsten Eisenbahngewerkschaften. Die Gewerkschaften machten zugunsten einer weniger paternalistischen und dafür innovativeren Geschäftsführung beträchtliche Konzessionen und versüßten so das Wroth'sche Zahlungsangebot an die Midland Pacific von $ 26/Aktie durch die Aussicht auf eine potenzielle kurzfristige Einsparung von $ 200 Millionen. Die Geschäftsleitung der Midpac wollte ihre Entscheidung offiziell erst zwei Wochen später fällen, doch die Sache galt als ausgemacht. Da chaotische Zustände zu befürchten waren, erging aus der Chefetage ein Schreiben an sämtliche Abteilungen, in dem es hieß, dass alle Aushilfskräfte bis spätestens Freitag, 17. August, den Dienst quittieren sollten.
Da es im Zeichenbüro (außer Denise) keine Frauen gab, baten ihre Kollegen die Sekretärin des Chefingenieurs, einen Abschiedskuchen zu backen. Sie stellten ihn Denise an ihrem letzten Arbeitsnachmittag hin. «Is ja 'n beachtlicher Erfolg», sagte Lamar kauend, «dass wir Sie endlich dazu gekriegt haben, 'ne Kaffeepause zu machen.»
Laredo Bob betupfte sich mit einem Taschentuch von der Größe eines Kissenbezugs die Augen.
Am selben Abend gab Alfred im Auto ein Kompliment weiter.
«Sam Beuerlein hat mir gesagt, er habe noch nie jemanden so fabelhaft arbeiten sehen wie dich.»
Denise sagte nichts.
«Du hast auf diese Männer großen Eindruck gemacht. Du hast ihnen die Augen darüber geöffnet, was ein Mädchen alles leisten kann. Ich habe dir das vorher nicht gesagt, aber ich hatte das Gefühl, dass die Männer nicht gerade begeistert waren, für den Sommer ein Mädchen zugeteilt zu bekommen. Ich glaube, sie hatten viel Geplapper und wenig Substanz erwartet.»
Sie war zwar froh über die Anerkennung von ihrem Vater.
Doch seine Freundlichkeit, wie die Freundlichkeit der Zeichner, die nicht Don Armour waren, erreichte sie nicht mehr. Sie schien ihren Körper anzufallen, irgendetwas von ihm zu wollen; und ihr Körper rebellierte.
Denise-uh-why-you-done, what-you-did?
«Na», sagte ihr Vater, «jedenfalls hast du jetzt eine Vorstellung vom Leben in der wirklichen Welt.»
Bevor sie nach Philadelphia kam, hatte ihr die Aussicht, in der Nähe von Gary und Caroline aufs College zu gehen, gefallen. Deren große Villa in der Seminole Street war wie ein Zuhause ohne die Nachteile eines Zuhauses, und auf Caroline, die so schön war, dass das bloße Privileg, mit ihr zu sprechen, Denise bisweilen den Atem nahm, war immer Verlass, wenn es darum ging, Denise zu versichern, dass sie allen Grund hatte, Enids wegen den Verstand zu verlieren. Schon gegen Ende ihres ersten Semesters aber stellte Denise fest, dass sie Gary für jede Nachricht, die er von ihr bekam, drei Nachrichten auf ihr Band sprechen ließ. (Einmal, ein einziges Mal nur, hatte sie eine Nachricht von Don Armour erhalten, auf die sie ebenfalls nicht reagierte.) Auch Garys Angebot, sie in ihrem Wohnheim abzuholen und nach dem Abendessen wieder zurückzufahren, lehnte sie immer häufiger ab. Sie behauptete, arbeiten zu müssen, und schaute dann, anstatt zu arbeiten, zusammen mit Julia Vrais fern. Es war ein Hattrick der Schuldgefühle: Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Gary belog, ein noch schlechteres, weil sie ihr Studium vernachlässigte, und das allerschlechteste, weil sie Julia vom Lernen abhielt. Denise konnte jederzeit die Nacht durchmachen, aber Julia war nach zweiundzwanzig Uhr zu nichts mehr zu gebrauchen. Julia hatte keinen Motor und kein Ruder. Sie konnte nicht erklären, warum sie im Herbstsemester Italienisch I, Russisch I, Fernöstliche Religionen und Musiktheorie belegt hatte; Denise warf sie vor, bei der Zusammenstellung ihrer ausgewogenen, aus Englisch, Geschichte, Philosophie und Biologie bestehenden akademischen Kost fremde Hilfe gehabt zu haben.
Denise ihrerseits war neidisch auf die College-«Männer» in Julias Leben. Anfänglich waren sie beide belagert worden. Unverhältnismäßig viele «Männer» aus den höheren Semestern, die in der Cafeteria ihre Tabletts neben ihnen auf den Tisch knallten, stammten aus New Jersey. Sie hatten nicht mehr ganz junge Gesichter und Megaphonstimmen, mit denen sie Matheaufgaben verglichen oder in Erinnerungen an einen Aufenthalt in Rehoboth Beach schwelgten, wo sie sich dermaßen hatten voll laufen lassen. An Julia und Denise hatten sie nur drei Fragen: (1) Wie heißt ihr? (2) In welchem Wohnheim seid ihr? und (3) Wollt ihr am Freitag zu unserer Party kommen? Denise war erstaunt, welch unverhohlene Grobheit in dieser Schnellprüfung lag, und nicht weniger erstaunt, wie fasziniert sich Julia von den Jungs aus Teaneck mit ihren digitalen Monsterarmbanduhren und zusammengewachsenen Augenbrauen zeigte. Julia reckte den Kopf wie ein Eichhörnchen, wenn es überzeugt ist, dass jemand altes Brot in der Tasche hat. Verließ sie eine Party, zuckte sie die Schultern und sagte zu Denise: «Er hat Stoff, also geh ich mit zu ihm.» Schon bald arbeitete Denise freitagabends allein. Sie handelte sich den Ruf einer Eisprinzessin und möglichen Lesbierin ein. Ihr fehlte Julias Fähigkeit, dahinzuschmelzen, wenn die gesamte College-Fußballmannschaft um drei Uhr nachts vor ihrem Fenster stand und im Chor ihren Namen rief. «Ist das peinlich», stöhnte Julia dann in einer Agonie der Glückseligkeit, während sie um die heruntergelassenen Rollos herumlugte. Die «Männer» draußen vor dem Fenster hatten keine Ahnung, wie glücklich sie sie machten, und ebendeshalb, so Denise' strikte Erstsemester-Meinung, hatten sie Julia nicht verdient.
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