Am Abend auf dem Heimweg in die Vororte fragte sie ihren Vater, ob die Wroths die Eisenbahngesellschaft mit der Arkansas Southern fusionieren würden.
«Wer weiß», sagte Alfred. «Ich hoffe nicht.»
Werde die Firma nach Little Rock verlegt?
«Das scheint, falls die Brüder zum Zuge kommen, ihre Absicht zu sein.»
Was werde dann aus den Männern von der Abteilung Signale?
«Ich denke, ein paar von den Dienstälteren würden mitgehen. Die Jüngeren — die würden wahrscheinlich entlassen. Aber ich möchte nicht, dass du darüber sprichst.»
«Mach ich auch nicht», sagte Denise.
Wie jeden Donnerstagabend in den letzten fünfunddreißig Jahren wartete Enid zu Hause mit dem Essen. Sie hatte grüne Paprika gefüllt und sprudelte vor Vorfreude auf das bevorstehende Wochenende.
«Morgen musst du mit dem Bus nach Hause kommen», sagte sie zu Denise, als sie sich an den Tisch setzten. «Dad und ich
fahren mit den Schumperts zu den Fond du Lac Estates.»
«Was sind die Fond du Lac Estates?»
«Kinkerlitzchen», sagte Alfred. «Hätte mich nie darauf einlassen sollen. Aber deine Mutter hat mich beschwatzt.»
«Al», sagte Enid, «da sind keinerlei Bedingungen dran geknüpft. Keiner zwingt uns, an irgendeinem der Seminare teilzunehmen. Wir können das ganze Wochenende tun und lassen, was wir wollen.»
«Ich wette, dass es Auflagen gibt. Der Makler kann doch nicht fortwährend kostenlose Wochenenden anbieten. Er muss Grundstücke verkaufen.»
«In der Broschüre stand, keine Auflagen, keine Erwartungen, keine Bedingungen.»
«Ich habe da meine Zweifel», sagte Alfred.
«Mary Beth sagt, in der Nähe von Bordentown gibt es eine herrliche Weinkellerei, die wir besichtigen können. Und wir können im See schwimmen! Und in der Broschüre steht was von Paddelbooten und einem Feinschmeckerrestaurant.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, was an einer Weinkellerei in Missouri mitten im Juli reizvoll sein soll», sagte Alfred.
«Du musst dich nur darauf einlassen», sagte Enid. «Als die Dribletts letzten Oktober dort waren, hatten sie eine so schöne Zeit. Dale hat gesagt, es gab überhaupt keine Auflagen. Fast gar keine.»
«Überleg dir mal, wer das sagt.»
«Wie meinst du das?»
«Ein Mann, der davon lebt, Särge zu verkaufen.»
«Dale ist nicht schlechter als alle anderen.»
«Ich sagte bereits, dass ich meine Zweifel habe. Aber ich komme mit.» An Denise gewandt, fügte er hinzu: «Du kannst mit dem Bus nach Hause fahren. Wir lassen dir ein Auto hier.» «Kenny Kraikmeyer hat heute Morgen angerufen», berichtete Enid. «Er wollte wissen, ob du am Samstagabend Zeit hast.»
Denise schloss ein Auge und öffnete das andere weit. «Und was hast du ihm gesagt?»
«Ich habe gesagt, ich glaubte schon.»
«Du hast was?»
«Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du was vorhast.»
Denise lachte. «Das Einzige, was ich im Moment vorhabe, ist, mich nicht mit Kenny Kraikmeyer zu treffen.»
«Er war sehr höflich», sagte Enid. «Weißt du, es kann nicht schaden, wenn du mit jemandem ausgehst, der dich immerhin so nett dazu auffordert. Wenn du dich nicht amüsierst, brauchst du's ja nicht wieder zu tun. Aber du solltest allmählich mal zu jemandem ja sagen. Die Leute denken bestimmt schon, niemand ist dir gut genug.»
Denise legte ihre Gabel hin. «Bei Kenny Kraikmeyer kommt's mir buchstäblich hoch.»
«Denise», sagte Alfred.
«Das ist nicht recht», sagte Enid mit zitternder Stimme. «Ich möchte dich nicht so reden hören.»
«Na gut, tut mir Leid. Aber ich habe am Samstag keine Zeit. Nicht für Kenny Kraikmeyer. Der im Übrigen, wenn er mit mir ausgehen möchte, auch mich selber fragen könnte.»
Denise kam der Gedanke, dass Enid ein Wochenende mit Kenny Kraikmeyer am Fond du Lac vermutlich gefallen könnte und Kenny sich dort vermutlich eher amüsieren würde als Alfred.
Nach dem Essen fuhr sie mit dem Fahrrad zum ältesten Haus in der Gegend, einem Backsteinwürfel mit meterhohen Decken aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, direkt gegenüber vom zugenagelten Pendlerbahnhof. Das Haus gehörte dem Leiter der Theater-AG an der Highschool, Henry Dusinberre, der gerade einen Monat mit seiner Mutter in New Orleans verbrachte und seine bizarre abessinische Bananenpflanze und die exzentrischen Krotonen und ironisch gemeinten Topfpalmen der Obhut seiner Lieblingsschülerin überlassen hatte. Zu den bordelligen Antiquitäten in Dusinberres Salon gehörten zwölf verschnörkelte Champagnergläser, jedes mit einer im geschliffenen Kristallstiel gefangenen Luftbläschensäule, und von all den jungen Mimen und Literaten, die Samstagabends an seine Hausbar strebten, durfte allein Denise daraus trinken. («Lass die kleinen Biester doch Plastikbecher nehmen», pflegte er zu sagen, während er seine geschwächten Glieder in einem kalbsledernen Clubsessel in die rechten Positionen brachte. Er hatte zwei Runden gegen einen Krebs gekämpft, der sich nun angeblich auf dem Rückzug befand, doch seine glänzende Haut und die hervorquellenden Augen ließen ahnen, dass, onkologisch betrachtet, nicht alles zum Besten stand. «Lambert, außergewöhnliches Geschöpf», sagte er, «setz dich hierhin, damit ich dein Profil sehen kann. Ist dir bewusst, dass die Japaner dich wegen deines Nackens anbeten würden? Anbeten würden sie dich.») In Dusinberres Haus hatte sie ihre erste rohe Auster, ihr erstes Wachtelei, ihren ersten Grappa probiert. Dusinberre bestärkte sie auch in ihrem Entschluss, nicht dem Charme irgendwelcher «verpickelten Jünglinge» (seine Formulierung) zu erliegen. In Antiquitätenläden kaufte er Kleider und Jacken zur Ansicht, und wenn sie Denise passten, schenkte er sie ihr. Zum Glück schätzte Enid, die wünschte, Denise würde sich mehr wie eine Schumpert oder Root kleiden, alte Sachen so gering, dass sie wirklich glaubte, ein fleckenloses, besticktes gelbes Satinpartykleid mit Knöpfen aus Tigeraugenachat habe Denise (wie diese behauptete) zehn Dollar bei der Heilsarmee gekostet. Enids bitteren Einwänden zum Trotz hatte sie das Kleid bei ihrem Highschool-Ball mit Peter Hicks getragen, jenem beträchtlich verpickelten Jüngling, der in der Glasmenagerie, in der sie die Amanda gespielt, den
Tom gegeben hatte. In der Ballnacht hätte Peter Hicks sogar mit ihr und Dusinberre aus den Rokoko-Champagnergläsern trinken dürfen, doch Peter musste noch Auto fahren und blieb bei seinem Plastikbecher Cola.
Nachdem sie die Pflanzen gegossen hatte, saß sie in Dusinberres kalbsledernem Sessel und hörte New Order. Sie wünschte, sie hätte Lust gehabt, mit jemandem auszugehen, aber die jungen Männer, die sie respektierte, wie Peter Hicks, ließen sie in romantischer Hinsicht kalt, und der Rest war vom selben Schlag wie Kenny Kraikmeyer, der sich, obwohl er zur Marineakademie wollte und eine Karriere als Nuklearwissenschaftler anstrebte, für ungeheuer ‹hip› hielt und Cream- und Jimi-Hendrix-«Vinyl» (sein Ausdruck) mit einer Leidenschaft sammelte, die ihm von Gott vermutlich eher dazu gegeben worden war, Modell-U-Boote zu bauen. Das Ausmaß ihres Widerwillens machte Denise Sorgen. Sie verstand nicht, warum sie so gehässig war. Sie wollte gar nicht gehässig sein. Irgendetwas stimmte nicht damit, wie sie sich selbst und andere sah.
Sobald allerdings ihre Mutter sie darauf hinwies, hatte sie keine andere Wahl, als sie in der Luft zu zerreißen.
Am nächsten Tag sonnte sie sich während der Mittagspause in einem der knappen, ärmellosen Tops, die sie, ohne dass ihre Mutter davon wusste, unter dem Pullover zur Arbeit trug, da tauchte aus dem Nichts Don Armour in der Grünanlage auf und ließ sich neben sie auf die Bank fallen.
«Sie spielen ja heute gar nicht Karten», sagte sie.
«Ich werd noch wahnsinnig», sagte er.
Sie schaute wieder auf ihr Buch. Deutlich spürte sie seine anzüglichen Blicke. Die Luft war heiß, aber nicht so heiß, dass sie die Hitze auf der ihm zugewandten Seite ihres Gesichts erklären konnte. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. «Hier sitzen Sie also immer.»
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