Da Woche für Woche eine andere Handwerksfirma in die Panama Street kam, um Verbesserungen vorzunehmen, und da Robin in einer utopistischen Zeit- und Energieversenkung verschwand, fand Brian sich damit ab, in der trostlosen Stadt seiner Kindheit zu bleiben. Aber er wollte sich amüsieren, notfalls auch allein. Er begann, in den guten Restaurants Philadelphias zu Mittag zu essen, probierte sie alle, eins nach dem anderen, aus, und maß jedes an seinem aktuellen Favoriten, dem Mare Scuro. Als er sicher war, dass ihm das Mare Scuro nach wie vor am besten gefiel, rief er die Küchenchefin an und machte ihr ein Angebot.
«Das erste richtig trendige Restaurant in Philly», sagte er. «Ein Ort, der einem das Gefühl gibt: ‹Hey, in dieser Stadt könnte ich, wenn es sein müsste, leben.› Es ist mir egal, ob das auch anderen so geht. Hauptsache, mir geht es so. Also, was immer Sie jetzt verdienen, ich zahle Ihnen das Doppelte. Sie gehen nach Europa und essen ein paar Monate lang auf meine Kosten. Und dann kommen Sie zurück und eröffnen und führen ein richtig trendiges Lokal.»
«Sie werden einen Haufen Geld verlieren», antwortete Denise, «wenn Sie nicht einen erfahrenen Partner oder einen außergewöhnlich guten Manager auftreiben.»
«Sagen Sie mir, was ich tun muss, und ich tue es», erwiderte Brian.
«Sagten Sie ‹das Doppelte›?»
«Sie haben das beste Restaurant der Stadt.»
«‹Das Doppelte› klingt interessant.»
«Dann willigen Sie ein.»
«Möglich», sagte Denise. «Aber Sie werden trotzdem einen Haufen Geld verlieren. Jedenfalls steht schon mal fest, dass Sie Ihren Küchenchef überbezahlen.»
Nein zu sagen war Denise schon immer schwer gefallen, wenn sie sich auf die richtige Weise gebraucht fühlte. Als Kind im vorstädtischen St. Jude war sie stets in sicherer Entfernung von Leuten gehalten worden, die sie auf solche Weise hätten brauchen können, doch als sie mit der Highschool fertig war, hatte sie einen Sommer lang in der Abteilung Signale der Midland Pacific Railroad gearbeitet, und da, in einem großen, sonnigen Raum mit zwei Reihen Zeichentischen, lernte sie die Sehnsüchte eines Dutzends älterer Männer kennen.
Das Gehirn der Midland Pacific, der Tempel der Firmenseele, war ein aus der Zeit der Depression stammendes Kalksteingebäude mit gerundeten Dachzinnen, die wie die Ränder einer zu dünnen Waffel aussahen. Die höheren Stufen des Bewusstseins hatten ihren kortikalen Sitz im Konferenz- und im Speisesaal der Geschäftsführung im sechzehnten Stock sowie in den Büros der praxisferneren Abteilungen (Betriebstechnik, Recht, Öffentlichkeitsarbeit), deren Direktoren im fünfzehnten saßen. Ganz unten, im Reptiliengehirn des Gebäudes, waren Fakturierung, Lohnbuchhaltung, Personalwesen und das Datenarchiv untergebracht. Dazwischen lagen mittlere Kompetenzbereiche wie die Technische Abteilung, in deren Zuständigkeit Brücken, Gleise, Gebäude und Signale fielen.
Das Streckennetz der Midland Pacific umfasste zwanzigtausend Kilometer, und für jedes Signal und jedes Kabel am Weg, jede Anlage roter und gelber Lichtzeichen, jeden im Schotter vergrabenen Bewegungsmelder, jeden blinkenden Signalarm an den Bahnübergängen, jedes Zeitschalter- und Relais-Aggregat in fensterlosen Aluminiumschuppen gab es im zwölften Stock des Hauptsitzes, wo sich der gepanzerte Lagerraum befand, aktuelle Schaltpläne, aufbewahrt in sechs mit schweren Deckeln versehenen Akten-Containern. Die ältesten Pläne waren freihändig mit Bleistift auf Pergament gezeichnet, die neuesten mit Rapidograph-Stiften auf vorgedruckten Klarsichtformularen.
Die Männer, die diese Dokumente erstellten, stets in enger Zusammenarbeit mit den Außendiensttechnikern, die dafür zu sorgen hatten, dass das Nervensystem der Eisenbahn gesund und unverknäult blieb, stammten aus Texas und Kansas und Missouri: intelligente, einfache, näselnde Männer, die zunächst als ungelernte Arbeiter in Signaltrupps Gleise von Unkraut befreit, Löcher für Masten gegraben und Drähte gespannt und sich dann mühsam immer weiter hochgedient hatten, bis sie, dank ihrer Fähigkeit, mit Schaltplänen umzugehen (und, wie Denise später klar wurde, dank ihrer weißen Hautfarbe), für die Fortbildung und den beruflichen Aufstieg auserkoren worden waren. Keiner von ihnen war länger als ein oder zwei Jahre aufs College gegangen, die meisten hatten nur die Highschool absolviert. An Sommertagen, wenn der Himmel weißer und das Gras brauner wurde und ihre einstigen Kumpel draußen Mühe hatten, keinen Hitzschlag zu bekommen, schätzten diese Zeichner sich glücklich, auf gepolsterten Bürostühlen zu sitzen, drinnen, wo die Luft so kühl war, dass sie in ihren persönlichen Schränken immer eine Strickjacke liegen hatten.
«Du wirst feststellen, dass manche Männer Kaffeepausen machen», sagte Alfred, als sie an Denise' erstem Arbeitsmorgen im rosa Licht der aufgehenden Sonne Richtung Innenstadt fuhren. «Ich möchte, dass dir eines klar ist: Sie werden nicht dafür bezahlt, Kaffeepausen zu machen. Ich erwarte also von dir, dass du keine machst. Die Eisenbahn tut uns einen Gefallen, indem sie dich anstellt, und sie bezahlt dich dafür, dass du acht Stunden arbeitest. Vergiss das nicht. Wenn du mit der gleichen Energie ans Werk gehst, mit der du dich auch deinen Schulaufgaben und deinem Trompetenspiel gewidmet hast, wirst du allen als hervorragende Arbeitskraft in Erinnerung bleiben.»
Denise nickte. Zu sagen, dass sie sich gern mit anderen maß, wäre noch untertrieben gewesen. Im Highschool-Orchester hatte es vierzehn Trompeten gegeben: zwei Mädchen und zwölf Jungen. Die erste Trompete hatte Denise gespielt, dann kamen die zwölf Jungen. (Ganz hinten saß ein Mädchen mit Cherokee-Blut in den Adern, das statt des hohen E meist das mittlere C traf und dazu beitrug, jene Dunstglocke des Missklangs zu erzeugen, die über jedem Schulorchester hängt.) Für Musik empfand Denise keine große Leidenschaft, aber es gefiel ihr, sich hervorzutun, und ihre Mutter glaubte, Orchester seien gut für Kinder. Enid mochte die Orchesterdisziplin, die beschwingte Lauterkeit, den Patriotismus. Gary war zu seiner Zeit ein ganz ordentlicher Trompeter gewesen, und Chip hatte sich (kurz, trötend) am Fagott versucht. Als Denise alt genug war, bat sie, in Garys Fußstapfen treten zu dürfen, aber Enid fand, dass kleine Mädchen und Trompeten nicht zusammenpassten. Zu kleinen Mädchen passten Flöten. Nun bedeutete es Denise nicht sonderlich viel, sich mit Mädchen zu messen. Sie beharrte auf der Trompete, und Alfred sprang ihr bei, und irgendwann ging Enid auf, dass sie Leihgebühren sparen konnten, wenn Denise Garys alte Trompete nahm.
Im Unterschied zu Notenblättern waren Denise die Schaltpläne, die sie in jenem Sommer zum Kopieren und Ablegen in die Hände bekam, leider unverständlich. Da es also zwecklos war, sich mit den Zeichnern zu messen, maß sie sich mit dem jungen Mann, der in den zwei vorangegangenen Sommern in der Abteilung Signale gearbeitet hatte: Alan Jamborets, der Sohn des Firmenjustiziars; und da sie keine Möglichkeit sah, Jamborets' Leistung einzuschätzen, arbeitete sie mit einem Eifer, den garantiert niemand übertreffen konnte.
«Mensch, Denise, verflucht noch mal», sagte Laredo Bob, ein schwitzender Texaner, während sie Pläne zurechtschnitt und sortierte.
«Was ist denn?»
«Sie sind bald ausgepumpt, wenn Sie weiter so schuften.»
«Macht mir eben Spaß», sagte sie. «Wenn ich erst mal in Schwung bin.»
«Na ja», sagte Laredo Bob, «'nen Teil davon können Sie genauso gut bis morgen liegen lassen.»
«So viel Spaß macht es mir nun auch wieder nicht.»
«Gut, okay, aber nun gönnen Sie sich mal 'ne Kaffeepause. Hören Sie?»
Ein paar Zeichner krakeelten auf dem Weg zum Flur.
«Kaffeepause!»
«Der Imbisswagen is da!»
«Kaffeepause!»
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